Schöne Bildzitate – und weiter nichts. Ein heterogener Siegfried in der Opéra National de Paris
Ein Jahr ist es nun her, dass man nach fünfzig Jahren ringloser Zeit in Paris begann, einen neuen Ring zu ‚schmieden’. Und jetzt ist man beim Siegfried angelangt, und noch immer ist bei all dem Bemühen eines berühmten Theatermachers und eines viel gefragten und hoch gehandelten Dirigenten keine konstituierende oder gar strukturierende Grundkonzeption zu erkennen. Zur Musik mag ich und darf ich als Dilettantin nichts sagen. Vielleicht nur, dass sie mir auch im Siegfried wie schon im Rheingold und in der Walküre oft müde und matt und temperamentlos vorkam und dass sich von der berühmten Wagnerdroge nur Spurenelemente fanden. Diese Klänge, die da aus dem Orchestergraben kamen, sie werfen fürwahr nicht „die Stärksten noch wie Stiere um“. Auch die Inszenierung ist fürwahr nicht umwerfend. Im Rheingold hatte Theatermacher Krämer noch eine Mixtur aus faschistischer Ästhetik, proletarischen Mythen und Filmzitaten aus den zwanziger und dreißiger Jahren angerichtet. In der Walküre trafen wir auf ein lust- und freudloses Paar in der Nachsommerblüte inmitten von Gewaltexzessen. Und jetzt im Siegfried: da rennt ein Unterschichtenjüngling in Latzhosen durch die Designerküche im ersten Akt, durch Kolonialszenen aus der Zeit des europäischen Imperialismus im zweiten Akt, um schließlich im dritten Akt bei einer monumentalen Totenfeier in imperialistischer oder vielleicht auch faschistischer Zeit zu landen. Eine seltsame Grundkonzeption. Wenn es denn eine ist. Vielleicht bin ich ja auch zu dumm, sie zu erfassen. So begnüge ich mich damit zu beschreiben, was ich sah. Erster Akt: ein sich herumlümmelnder, wohlgenährter blonder Jungmann langweilt sich im Attico mit Aufzug für den großen Teddybären aus dem Zoo. Unter der Dachterrasse findet sich ein gut ausgestatteter Hobbyraum: praktischerweise mit Schmiede. Zweiter Akt: unter Kolonialkriegern im Afrika des 19. Jahrhunderts. Zwei europäische Kaufherren (bei Wagner Wotan und Alberich) stecken ihre Claims ab, suchen einem dritten Kolonialisten (bei Wagner Fafner), der es wohl zum König unter den Eingeborenen gebracht hat, um seine Bodenschätze zu bringen. Siegfried kommt hinzu, fängt einen Streit mit dem europäischen Eingeborenkönig an, sticht diesen einfach nieder und macht sich mit zwei Beutestücken davon – in Begleitung eines bebrillten Knaben (bei Wagner der Waldvogel), der die Geheimnisse des Eingeborenstamms kennt. Dritter Akt: Wotan geht ins Maxim oder vielleicht auch ins Bordell, kommt aber erst nach Betriebsschluss. Die Damen sind wohl schon schlafen gegangen. Nur eine Dame – bei Wagner Urmutter Erda, bei Krämer eine Dame, die in ihrem Outfit fatal an die späte Cosima erinnert – gibt widerwillig spärliche Auskünfte. Finale dritter Akt: auf der Mitte einer monumentalen Treppe, die den ganzen Bühnenraum ausfüllt, liegt auf einem Sarkophag eine Figur im ‚Waffenschmuck’. Versunken in Meditation kniet davor eine Figur im Militärmantel des 19. Jahrhunderts. Oben am rechten Rand der Treppe hocken regungslos Figuren mit Federbuschhelden. Trauert Wotan mit seinen Walküren um seine „Wunschmaid“? Zitiert die Regie ein Bild aus dem Reservoir der faschistischen Ästhetik? ‚ Das weiß ich nicht’. Oder ist angesichts des Niedergangs des stolzen Germaniens, von dem nur drei müde Lettern übrig geblieben sind, allgemeine Staatstrauer angesagt (Die Lettern hatten einst im Rheingold Leni Riefenstahl Jungmannen aufgerichtet)? ‚Das weiß ich nicht’. Dass bei dieser Trauerszene von Liebe, Lust und Leidenschaft, um die es doch im Finale des Siegfried auch gehen soll, wenig zu hören und zu sehen war und manches in gewollte oder auch unfreiwillige Komik umzukippen drohte – Latzhosen Siegfried sauste auf dem Hosenboden vom halb umgekippten Tisch, auf dem Mutter Erda schon herumgerutscht war, direkt auf die bräutliche Walküre zu – dass da von Lust und Liebe und Leidenschaft wenig zu hören und zu sehen war, wen wundert das. Und so sind wir denn nach diesem unbefriedigenden Siegfried recht frustriert und leicht verärgert nach Hause gegangen. Immerhin – dieser Trost bleibt – es wurde brillant gesungen. Auch meine französischen Sitznachbarn wussten nicht weiter. Und so einigten wir uns darauf, dass eine Inszenierung halt polyvalent ist und man zumindest beim Pariser Siegfried etwas von der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts kennen müsste, – vielleicht etwas von Odilon Redon, vielleicht auch etwas aus der deutschen Romantik – um die Bildzitate im zweiten Akt zu erkennen und meinethalben zu genießen. Der Pariser Siegfried ist keine Reise wert. Wir sahen die Vorstellung am 18. März. Die Premiere war am 1. März 2011.