Iphigenie im Doppelpack und Medea als abgehalfterte Pop-Sängerin. Zwei Wiederaufnahmen in Amsterdam und in Brüssel
Wann hat man schon Gelegenheit, beide Gluck Iphigenien – Iphigénie en Aulide und Iphigénie en Tauride – hinter einander an einem Nachmittag zu hören und noch dazu dirigiert von Marc Minkowski und gespielt von Les Musiciens du Louvre. Grenoble. Das Musiktheater Amsterdam bot im September 2011 in mehreren Vorstellungen diese Rarität. Keine Frage, dass in Amsterdam brillant und schön gesungen und musiziert wurde, dass ein sanfter und getragener und dann, wenn es die Szene verlangte, auch ein dramatisch wuchtiger Gluck erklang. Musik halt vom Allerfeinsten. Von der Inszenierung lässt sich Ähnliches kaum behaupten, wenngleich sie sich alle Mühe gibt, schick und modisch zu sein. So verlegt sie die Spielfläche auf den Orchestergraben, begrenzt diese jeweils seitlich mit Stahlgerüsten und Treppen, platziert das Orchester hinter die Spielfläche, den Chor und auch Zuschauer auf aufsteigende Ränge in den hinteren Bühnenraum.
All das mag, wohlwollend betrachtet, an ein klassisches griechisches Theater erinnern. Doch griechisches Theater wollte Regisseur Pierre Audi wohl nicht nachstellen. Zwar ist die Göttin Diana als Spielmacherin eines die Menschen quälenden Spektakels stets präsent. Zwar schreiten die Damen hin und wieder hoheitsvoll die Treppen hinab oder deklamieren statuarisch. Doch in Szene setzen will die Regie wohl keine griechische Tragödie, sondern primär eine Horror Militärklamotte. So dürfen sich denn in der Iphigenie in Aulis schwer bewaffnete Nato Soldaten der schnellen Eingreifstruppe tummeln und ein blutbeschmierter Achilles als Meuterer gegen Nato General Agamemnon seine verhuschte Iphigenie befreien. Und in Tauris – wir sind ja jetzt bei den Barbaren – da sind die Gewalttätigen orientalische Machos oder somalische Seeräuber, und Pylades darf den Obermacho Thoas lustvoll abstechen. Ja, warum soll man nicht das Gewaltpotential und das Motiv der Grausamkeit oder ganz allgemein das zeitlos Barbarische herausstellen, das den Iphigenie Mythos mitbestimmt. Iphigenie als Action Film. Wenn so schön gesungen und musiziert wird wie in Amsterdam, dann stört eine solch oberflächliche Interpretation nicht weiter. Wir sahen die Vorstellung am 18. September.
Anders als in Amsterdam, wo die Regie trotz ihrer Vorliebe für Gewaltexzesse nie der Musik Gewalt antut (prima la musica e poi la messa in scena), traut in Brüssel Theatermacher Warlikowski Cherubinis Medea Musik wenig – und einer archaischen Medea noch weniger. So empfängt das Publikum vor Vorstellungsbeginn im alterwürdigen Zuschauerraum des Théâtre de la Monnaie Pop Musik, und Medea evoziert mit ihrem ganzen Outfit gleich bei ihrem ersten Auftritt die Figur einer Pop Ikone: Amy Winehouse. Eine Ausgeflippte, die in ein großbürgerliches Familienfest eindringt, dorthin Verwüstung und Mord bringt und das nur, weil sich ihr Exlover zwecks eigener Resozialisierung das schüchterne und verängstigte Töchterchen der Großbürger als Ehefrau ausgeguckt hat. Die Aktualisierung des Medea Mythos nicht nur über die Inszenierung, sondern auch über die Musik, die Neufassung der gesprochenen Dialoge (und auch ihre gelegentliche Vulgarisierung) als unheimliche Stimmen aus dem Off, die Parodie der bürgerlichen Familie, die latente Gewalt- und Brutalitätsbereitschaft der Außenseiterin, ihre Verzweiflung und zugleich ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit in trauter Zweisamkeit, die Erbärmlichkeit des Pseudomacho Jason, all dies und noch vieles andere wird zweifellos grandios in Szene gesetzt. Und wenn dann noch dazu eine so brillante Sängerin und Schauspielerin wie Nadja Michael als Medea auf der Bühne steht, dann erlebt der Zuschauer einen großartigen Theaterabend. Dass dazu noch als Sound auch die Musik eines gewissen Signore Cherubini, der einstens im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert ein berühmter Musiker gewesen ist, zu hören war, das ist nicht weiter aufgefallen. Prima las messa in scena e poi la musica. Wir sahen die Vorstellung am 17. September 2011.