L’imagination: „la reine des facultés“ – Johannes Erath inszeniert Les Contes d’Hoffmann als Fest der Phantasie, des Traums und des Theaterzaubers an der Semper Oper

So viele Male haben wir Hoffmanns Erzählungen nun schon gesehen. In Berlin, in der Komischen Oper, da drehte sich alles um den genialischen Trunkenbold  und seine phantastisch-groteske Welt. Im Alkoholdelirium eines fast vergreisten Hoffmann werden dessen jugendliche Doppelgänger und deren Geschichten wieder lebendig, und vergeblich sucht der alte Hoffmann, seine Wiedergänger, sein Alter Ego, vor der Katastrophe zu bewahren. In Bregenz waren Hoffmanns Erzählungen zum Revuetheater, in dem sich  alle Identitäten und alle Gattungsformen auflösen, geworden. In München macht man es sich ganz einfach. Da engagiert man zwei Stars der internationalen Opernszene für die Hauptrollen und macht von der Inszenierung nicht viel Aufhebens – das gängige Rezept, mit den sich ein großes Haus immer füllen lässt.

Eigentlich kann ich diese spätromantische Gefühlsduselei, den süßen Kitsch, die so zahlreichen Ohrwürmer nicht mehr ertragen – und gehe trotzdem immer wieder hin. Die Offenbach Musik ist halt so schön und so eingängig. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass wir im Abstand von nur wenigen Tagen gleich zwei Werke von Offenbach sehen durften – in Inszenierungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: in der Oper Stuttgart einen musikalisch und szenisch drögen und langweiligen Orpheus und in der Semper Oper Les Contes d’Hoffmann als Fest der Stimmen, der überbordenden Phantasie und des Theaters auf dem Theater. In Dresden da faszinieren Musik und Szene so sehr, dass man gleich alle Vorurteile vergisst. Da wird ohne alle Süße, ohne jeglichen Zuckerguss in allen Rollen brillant gesungen, da überragt Hoffmann in der Person des Eric Cutler in Gesang und Spiel und  Bühnenerscheinung noch das hochkarätig besetzte Ensemble, da wird unter der Leitung von Maestro Frédéric Chaslin ohne alles Gedröhne und ohne alle Sentimentalitäten berückend schön musiziert. Da ist alles Theater, alles Illusion. Dort regiert  – ganz wie es sich für eine opéra fantastique gehört – „l‘imagination, la reine des facultés“ (Baudelaire).

Die Bühne ist ein sich perspektivisch verengendes Theater mit Zuschauerraum, einem Zuschauerraum, der nichts als Illusion ist, ein auf ein Prospekt gemalter Zuschauerraum, der, wird der Prospekt beiseite gezogen, zur Spielfläche auf der Vorderbühne wird. Die Muse klettert aus dem Orchestergraben und wird als gleichsam mitspielender Theaterdirektor das Bühnengeschehen dirigieren und begleiten. Hoffmann – trunken allenfalls von der Stimme der Sängerin Stella in der Rolle der Donna Anna wartet auf diese an deren Garderobe. Der Bösewicht und Intrigant hat die Proszeniumsloge für sich reserviert  und singt und agiert mal von dort, mal auf der Bühne. Hofmanns  Traumfrauen, zum Zeichen, dass sie, wenngleich in unterschiedlicher Gestalt, immer nur ein und dieselbe sind, tragen ein einheitlich geschnittenes weißes Kleid. Im ersten Akt tritt die ‚Traumfrau‘ als Tänzerin Olympia auf, verzaubert  Hoffmann als Schwanensee Prinzessin und parodiert zusammen mit dem plumpen Diener Cochenille als Prinzen das Ballett. Im dritten Akt ist aus der der Kurtisane eine Nachtklubsängerin geworden –  ein Josephine Baker Verschnitt in einem Toulouse Lautrec Milieu. Einzig der Antonia Akt verbleibt im eher traditionellen Rahmen. All diese von der Imagination des Literaten erschaffenen Frauenfiguren wird Hoffmann, so wie er sie erschaffen hat, auch wieder zerstören. Giulietta, die Nachtklubsängerin, erwürgt er in scheinbar liebevoller Umarmung, Antonia animiert er zum für sie tödlichen Singen, Olympia, der Automat, war nie lebendig. Und die Muse? Sie wird im Finale das weiße Kleid tragen. Auf ihren Rücken schreibt Hoffmann seine Texte. „Written on skin“ – ein unmarkierter Hinweis  die gleichnamige erfolgreiche, zeitgenössische Oper?  Teilt sie das Schicksal der anderen Frauen, auch das der Protagonistin aus Written on skin? Mag sein.

Les Contes d’Hoffmann eine „fantastische Oper“, Sprungbrett für die Phantasie der Theatermacher, Sprungbrett für die Phantasie der Zuschauer, der die Regie den Weg weist. Das Theater ein Ort der sich überschlagenden Imagination, die ‚Traumfrauen‘ und Monster erschafft. In Berlin hatte Barrie Kosky und in Bregenz hatte Stefan Herheim Les Contes d‘ Hoffmann als grandioses Musiktheater in Szene gesetzt. Johannes Erath weiß an der Semper Oper mit beiden Inszenierungen durchaus mitzuhalten. Ein großer Opernabend in der Semperoper – in einem bei weitem nicht ausverkauften Haus.

Wir sahen die Aufführung am 23. Dezember 2016. Die „6.Vorstellung seit der Premiere am 4. Dezember 2016“.