Nicht nur Mozart und Strauss sollen in Salzburg die Hausgötter sein. Jedes Jahr soll ein neuer Gott hinzukommen. Der Olymp verlangt Neues – spektakulär Neues. Der neue Gott soll sein Publikum nicht zu sehr erschrecken, zu sehr provozieren. Er soll kein Revolutionär, kein Neutöner um jeden Preis sein. Doch spektakulär soll sein Einzug in den Salzburger Musentempel in jedem Fall sein.
Im vergangenen Jahr war Wolfgang Rihm mit seinem Highlight der zeitgenössischen Oper: Die Eroberung von Mexiko der neue Gott. Was dem Stück an Spektakulären fehlte, das zauberte mühelos die Regie herbei. Den ewigen Streit zwischen dem Ewig-Weiblichen und dem Ewig-Männlichen, eigentlich ein Kammerspiel, ließ sie in einer Industriebrache, auf einem Autofriedhof spielen, in einer Ansammlung von Schrott, über den die Protagonisten klettern, um in ihrer Ikea Wohnstube Männlichkeits- und Weiblichkeitsrituale durchzuexerzieren.
In eine ganz andere Welt, in ein ganz anderes Medium, in die surrealistische Welt des Filmemachers Luis Buñuels, führt uns in diesem Jahr Thomas Adés. In diesem Festspielsommer kommt der neue Gott aus England herüber und erfüllt alle Bedingungen und Wünsche des eher ältlichen und doch Neuem gegenüber aufgeschlossenem Publikum. Die Musik ist, von wenigen Passagen abgesehen, eher sanft, verzichtet durchweg auf spröde Dissonanzen , zitiert und variiert musikalische Formen wie Chaconne, Choral, Walzer, Fuge, Requiem, verweist auf hebräische Musik und noch auf vieles mehr. Feinheiten und Referenzen, die dem Laien, der überdies zum ersten Mal Kompositionen von Thomas Adés hört, größtenteils entgehen und die er im Nachhinein vielleicht dem Programmheft entnehmen kann. Überlassen wir also die Beschreibung und Exegese der Musik den Musikern und Musikhistorikern, und beschränken wir uns auf ein paar Bemerkungen zu Libretto und Inszenierung.
Das Drehbuch Buñuels – das Libretto folgt, abgesehen von einigen Reduzierungen und Hinzufügung, dem Film – erzählt von einer großbürgerlichen Gesellschaft, die nach einem Opernbesuch im Salon eines reichen Ehepaars eingeschlossen ist und die, wenngleich die Türen offen stehen, diesen Salon aus unerklärlichen Gründen nicht verlassen kann. Mit dem Gefangen-Sein lösen sich nach und nach alle Konventionen auf. Jegliche Zivilisation fällt von den Eingeschlossenen ab, und sie kommen der Barbarei immer näher. Vor dem endgültigen Absturz und aus der Gefangenschaft befreit am Ende die Musik, die Arie der Sängerin Leticia. „Der Text von Leticias Arie ist einem Zionslied von Jehuda Alevi entnommen, der im frühen 12. Jahrhundert in Spanien seine Sehnsucht nach Jerusalem in Worte fasste“ (Thomas Adés im Programmheft S. 42).
Ein Märchen, eine surrealistische Parabel, die sich im dritten Akt zum Delirium und zur Traumerzählung steigert und die scheinbar ‚realistisch’ und versöhnlich endet: die Eingeschlossenen verlassen das Haus, werden von der wartenden Menge freundlich empfangen. Der Chor singt den Bittgesang aus dem Requiem: Libera de morte aeterna, et lux aeterna luceat.
Buñuels Film hat eine Vielzahl kontroverser Deutungen erfahren, Interpretationen, die implizit auch auf das Libretto und die Oper zutreffen können. Der Interessierte mag sie in dem informativen Aufsatz des Dramaturgen Christian Arseni nachlesen. Der Opernbesucher braucht diese Informationen nicht. Die Inszenierung, für die Tom Cairns (der zusammen mit dem Komponisten auch das Libretto eingerichtet hat) verantwortlich zeichnet, bietet, ohne dass sie dem Zuschauer eine Deutung aufdrängen will, genug Anschauungsmaterial, liefert genug Denkanstöße. Eine Inszenierung, die mit ihren Szenen und Bildern fasziniert – sie orientieren sich häufig an Buñuels Filmeinstellungen – und die nicht zuletzt mit ihrer brillanten Personenregie beeindruckt. Und das gleiche gilt für das Ensemble der grandiosen Sängerschauspieler, die in Salzburg auf der Bühne stehen. John Tomlinson als stets die Contenance wahrender alter Mediziner, Christine Rice als Pianistin Blanca, Audrey Luna als Sängerin Leticia, Charles Workman als sich bis zur Selbstaufgabe hin stets der Barbarei widersetzender Gastgeber Edmundo de Nobile, um nur einige Namen aus dem Ensemble der Stars zu nennen.
Ein großer Opernabend. Wir sahen am 8. August 2016 die Dernière, die vierte Vorstellung. Die Premiere war am 28. Juli 2016.