Sommergäste am Meer – Traum- und Puppenspiel in Partituren. Jürgen Flimm inszeniert Le Nozze di Figaro an der Staatsoper im Schiller Theater. Stefan Herheim an der Staatsoper Hamburg

Ein Zufall, dass zwei renommierte Staatsopern Mozarts und Da Pontes Commedia per musica nahezu gleichzeitig herausbringen: am 7. November war die Berliner Premiere, am 15.  November die Hamburger. Ein Zufall, dass in beiden Häusern renommierte Theatermacher für die jeweilige Produktion verantwortlich zeichnen. Ein Vergleich der beiden Inszenierungen bietet sich geradezu von selber an.

Wir wollen nicht vom musikalischen Part sprechen. Jeder Vergleich wäre in diesem Fall nicht sehr fair: in Hamburg steht das hauseigene Ensemble auf der Bühne und singt und spielt wie es dem Niveau eines großen Musiktheaters entspricht. Mehr war nicht zu erwarten. Und mehr wurde auch nicht geboten. In Berlin hingegen  hat man zu den schon allseits bekannten großen Namen des Hauses wie Anna Prohaska als Susanna  und Katharina Kammerloher als Marcellina für die weiteren tragenden Rollen noch dazu Stars der internationalen Opernszene engagiert: Dorothea Röschmann als Contessa, Marianne Crebassa als Cherubino und  Ildebrando D’Arcangelo als Conte Almaviva. Bei diesem Ensemble großer Namen darf das Publikum ein Fest der Stimmen erwarten. Und ein brillantes  Mozart Fest der Stimmen bekommt es auch serviert.

Und die Inszenierung? Sagen wir es gleich. Mit Le Nozze di Figaro knüpft Theatermacher Flimm, dessen Salzburger Inszenierungen ich nur als  enttäuschend in Erinnerung habe, an seine Glanzzeiten in Köln, in Bayreuth und in Zürich wieder an. Dieser Berlin Figaro ist ihm  rundum geglückt, ist großes Theater, ein Spektakel, das vor allem in den ersten Akten alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und manchmal die Musik geradezu erschlägt.

Es beginnt schon gleich mit einem Gag. Zur Ouvertüre stürzt das ganze Ensemble aus den Seitentüren des Zuschauerraums herein, rennt gehetzt und zugleich erwartungsvoll über die Passarelle, in Kostüm und Maske reiche Sommergäste aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bei der Ankunft im hochherrschaftlichen Sommerdomizil. Sommergäste, die in ihren weißen Anzügen,  ihren Badekostümen, ihrer Reisekleidung , mit ihren Panamahüten, bewaffnet mit riesigen Koffern auch gerade aus einer Probe zum Death in Venice oder zu den Gorki Sommergästen herüber gelaufen sein könnten.

Ja, warum soll der Conte Almaviva, ein wohlhabender Herr von Stand,  bei dieser andalusischen Hitze nicht mal einen Ausflug ans Meer, zu seiner Sommerresidenz an der Küste,  unternehmen  und Gattin, Zofe, Faktotum, Page, Musiker gleich mitnehmen und mit der ganzen Gesellschaft einen „tollen Tag“, „une folle journée“, im kühlen Sommerhaus und im dazu gehörigen Garten verbringen. Da steht auch schon der Gärtner Antonio, der auch den Hausverwalter macht, nebst attraktiven Töchterchen Barbarina vor dem Haus und begrüßt alle devot.

Eine witzige und überzeugende Grundkonzeption, die  über alle vier Akte hinweg die Inszenierung trägt. Hinzu kommt ein besonderer Glücksfall, der diese spritzige Inszenierung überhaupt erst möglich macht: der Regie steht ein spielfreudiges, ungewöhnlich komödiantisches Ensemble zur Verfügung. Wie Ildebrando D’Arcangelo geradezu in Fellini Manier den Conte als Parodie des spanischen Macho und des italienischen latin Lover anlegt, wie er, der schon von der Bühnenerscheinung  her diesem Typus recht nahe steht, sich selber ironisiert und parodiert, das gehört mit zu den großen Szenen der Aufführung.

Es ist schon viel darüber geschrieben worden, dass Mozarts Commedia per musica eigentlich Le Nozze di Susanna heißen müsste – eine Deutung, die eine Untersuchung der Liebesdiskurse und ihrer Verteilung auf die einzelnen Figuren unschwer bestätigen kann. Doch in dieser Flimm Inszenierung müsste das Stück eigentlich La Commedia del Conte heißen. Der Conte, und nicht Susanna und erst recht nicht der Tölpel Figaro,  ist hier in Spiel und Gesang eine absolut dominierende Bühnenfigur. Allenfalls Cherubino in der Person der Marianne Crebassa könnte ihm diesen Rang streitig machen. Crebassa singt und spielt fürwahr einen „Adoncino d’amor“, vor dem zu keiner Zeit ein weibliches Wesen sicher ist und dem alle Frauen verfallen sind. Ein Cherubino, der nicht nur ein kleiner Adonis, sondern zugleich ein neuer Don Juan ist.

„Une folle journée“ bis zum nächsten Morgen. Nur konsequent ist dann auch, dass die ganze Gesellschaft mit all ihren Überseekoffern über die Passarelle und den Zuschauerraum wieder abzieht, ein als letzter davon eilender Cherubino einer traurig ihm nachblickenden Barbarina noch einmal winkt. Der große Liebesreigen in der Sommerresidenz ist zu Ende, und alle haben ihren Spaß dabei gehabt. Und Susanna, die mit Galanterie und Passion so leicht zu spielen weiß, wird nicht beim eifersüchtigen Tölpel Figaro bleiben, die Contessa wird weiter von der Liebe als Passion träumen und sehnsuchtsvoll an Cherubino denken und …. Wir im Publikum erlebten einen glanzvollen Opernabend in der Staatsoper im Schillertheater.

Und die Figaro Inszenierung  in Hamburg?

Stefan Herheim nimmt den Untertitel “commedia per musica” im Wortverstande, lässt die Figuren der Commedia gleichsam zu lebendig gewordenen Noten werden, lässt sie in Notenblättern, in Partituren wühlen, sich ihre Auftritte aus den Notenblättern heraussuchen, unter Notenblättern schlafen und träumen, steckt sie in Kostüme  aus Notenblättern oder in Kostüme, die mit Noten verziert sind. Notenblätter fallen von der Decke, mit Notenblättern sind alle Wände des großen Saals, der Einheitsspielfläche, beklebt.  Im Finale werden die Figuren wieder hinter den Noten verschwinden. Die Noten werden zu im Takt dahin rennenden Strichmännchen und lösen sich auf: Fine dell’Opera.

‚Zu viele Noten, lieber Herheim‘ – ‚Gerade so viel wie nötig sind‘

Gleich in der Ouvertüre geht es mit der Noten Manier los. Der Vorhang besteht aus Noten, zeigt die Partitur von Le Nozze di Figaro, die Noten werden lebendig, die Noten werden zu Strichmännchen, zu Spermien, die hinter weiblichen Strichfiguren her rennen. Erotische Noten. Ja, jetzt haben es auch die schmallippigen, so böse drein schauenden alten Damen neben wir begriffen: in Le Nozze di Figaro  da geht es um Erotik, um ganz handfeste Amore.

Die Notenmanier, so geistreich und witzig sie auch ist, würde wohl die Aufführung auf die Dauer nicht tragen. Doch Theatermacher Herheim mit seiner überbordenden Phantasie und seiner subtilen Kenntnis der Literatur weiß sich zu helfen. Le Nozze di Figaro, das ist für ihn ein Puppenspiel, ein Marionettentheater. Bühne des Marionettentheaters ist das große Bett, das im ersten Akt Komparsen hereintragen, das Bett, das neben den Notenblättern einziges Requisit auf der Spielfläche ist. Aus der Tiefe des Betts tauchen  gleichsam als Spielfiguren Cherubino als junger spanischer Edelmann, Marcellina als Matrone und Bartolo – in Kostüm und Maske ein Kasperle Verschnitt  – auf. Im Bett werden sich  der Conte und Cherubino verstecken. Auf dem Bett werden unter den wütenden Blicken des düpierten Conte Susanna und Figaro ihre Sexspielchen treiben. Und wenn dieser in seiner Wut Figaro erschlagen will, dann hat er doch  nur der Marionette, die die Züge Figaros trägt, den Kopf abgeschlagen. Das Bett Ort der Lust, der ganz konkreten sexuellen Lust, und zugleich Ort der Lust am Spiel, der Lust am Theater.

Vordergründige Handlung, wie wir sie kennen, und Theater auf dem Theater, hier im ganz konkreten Sinne die Lust am Marionettenspiel, gehen ineinander über und werden sich im vierten  Akt zum Traumspiel weiten, zu einem midsummer night’s dream, in dem die Identitäten sich verlieren, die Sinne verwirrt werden, der Conte als Opfer der Intrige in Ohnmacht oder vielleicht auch in eine Art Heilschlaf fällt oder vielleicht auch als Marionette ausgeschaltet wird. Wer kann und will das schon so genau wissen. Ist doch im Traumspiel alles möglich und wahrscheinlich.

Le Nozze di Figaro in Berlin und in Hamburg. Wem gebührt ‘der große Preis für die beste Regie’? Jedem von beiden. Jede der beiden Inszenierungen ist auf ihre Art exzellent. Zugänglicher, leichter verständlich und unterhaltsamer ist wohl der Flimm Figaro.  Wer es mehr ‚sofisticated‘ möchte, der wird sich an Herheim halten. Und wer zur exzellenten Inszenierung auch noch ein Fest der Stimmen erleben will, der sollte unbedingt zur Staatsoper im Schillertheater gehen.

Wir sahen den Berliner Figaro am 11. November 2015, die dritte Vorstellung in dieser Inszenierung. Den Hamburger Figaro sahen wir am 17. November 2015, die zweite Aufführung in dieser Inszenierung.