Das goldene Kalb ist ein müder Ochse. Romeo Castellucci inszeniert Moses und Aron an der Opéra National de Paris. Bastille

Arnold Schönberg macht heute niemandem mehr Angst. Ganz im Gegenteil. Seine Zwölftonmusik begeistert das Publikum, sorgt für ein volles Haus. Zumindest in Paris, wo der riesige Saal der Opéra Bastille bis zum letzten Platz ausverkauft war. Oder ist es vielleicht das biblische Thema, das  Schönbergs Oper so erfolgreich macht? Das ist ganz unwahrscheinlich, und  Romeo Castellucci, der in Personalunion für Regie, Ausstattung, Kostüme und Lichtdesign verantwortlich zeichnet, weist in seinen Vorbemerkungen zur Inszenierung ein mögliches Missverständnis auch gleich zurück: „ Der Moses, wie wir ihn hier zeigen, ist nicht der Moses der Bibel, sondern der Schönbergs, der Mensch Moses“.

In der Tat ist der Schönberg Moses kein Prophet, kein Heerführer, kein Handelnder, sondern ein Kontemplativer, ein introvertierter Logozentriker, der verzweifelt nach dem Wort, dem Logos sucht und dem sein Bruder und Gegenspieler Aron die Macht der Bilder entgegensetzt. In diesem Sinne ist die Regie nur konsequent, wenn sie im ersten Akt, in dem Moses präsent ist, dem Zuschauer keine Bilder anbietet, besser gesagt: ihm nichts zu sehen gibt, ihm gleichsam einen Wahrnehmungsfilter vor die Augen hält, auf dass er auf einer in milchiges Licht verhüllten Szene nur Schattenrisse, nur phantomhafte Gestalten in weißen Gewändern ausmachen kann. Nur das Wort (und die Musik) zählen.

Im zweiten Akt, wenn Aron und mit ihm die Macht der Bilder dominiert, geht es dann konsequenterweise auch ganz konventionell zu. Da treten die Volksmassen geradezu choreographisch auf. Da wird ein veritabler kraftvoller  Ochse als goldenes Kalb hereingeführt. Da tauchen die Selbstmörder und alle, die sich für Märtyrer und Opfertiere halten, in die Unterbühne, in eine Art Wasser- und Schlammbecken hinab. Orgien, wie sie das Libretto verlangt, müde, langweilige Orgien, so müde wie der Ochse, der das goldene Kalb mimen soll, dem Schlamm auf den Rücken geschüttet wird und der die Szene auch bald wieder verlässt.

Es ist bewundernswert, wie Theatermacher Castellucci eine Hundertschaft von Choristen, Tänzern und Statisten führt und dirigiert. Ein Meister der Personenregie, dem zweifellos eindrucksvolle Bilder gelingen, vielleicht das eindrucksvollste im Finale des zweiten Akts. Das goldene Kalb, das alle anbeten, ist Aron selber, der Herr der Bilder, der aus Filmrollen eine Figur geformt hat und mit dieser Figur eins wird. Als das Wort des Moses das Bild zerstört – „Dein Bild verblich vor meinem Wort“ – da kriecht Aron aus den Filmrollen, eben aus den Bildern heraus. Doch der Sieg des Moses ist nur ein scheinbarer Sieg. Der Logozentriker wird weiter vergeblich nach dem Wort suchen: „O Wort, du Wort, das mir fehlt“.

Ich hatte Moses und Aron zuvor noch nie auf der Bühne gesehen und auch noch nicht als Ganzes gehört. So fehlt mir jede Vergleichsmöglichkeit. Mir bleibt nur ein laienhafter Eindruck: was wir in der Bastille hörten und sahen, war ohne Zweifel ein grandioses Spektakel, wohl ein Höhepunkt der laufenden Spielzeit. Ob ich noch einmal hingehen würde? Ich weiß es nicht.

Wir sahen die Aufführung am 6. November 2015. Die sechste Vorstellung in dieser Inszenierung. Die Premiere war am 20. Oktober 2015.

Ob ich noch einmal zu L’elisir d’amore gehen würde, einer Inszenierung, die Laurent Pelly vor nunmehr neun Jahren herausbrachte und die es in  der Bastille schon auf 37 Aufführungen gebracht hat? Ich glaube nicht.

Mag Roberto Alagna auch noch  so  schön „Una furtiva lagrima“ singen und schmachten und mit noch so viel Witz und komödiantischer Begabung  den Tölpel Nemorino mimen, mag Aleksandra Kurzak auch noch schön das kokette Mädchen vom Lande spielen und singen, mag die Regie auch die freundliche Karikatur eines ländlichen Italien der Fünfzigerjahre evozieren, das ist alles sehr schön und unterhaltsam und geboten wird zweifellos Belcanto in Perfektion, doch noch einmal würde ich nicht hingehen.

Wir sahen L’elisir d’amore  in der Bastille am 8. November 2015.