Um es gleich vorweg zu sagen: diese Zürcher Inszenierung ist einfach grandios. Sie fasziniert mit ihrer Grundkonzeption, hält den Spannungsbogen über eineinhalb Stunden hinweg, ist weder belehrend noch ideologisch, verzichtet auf Sozialkitsch und allen kruden Realismus, macht aus einem der Lieblingsstücke der Brechtianer groteskes Marionetten- und Kasperletheater – und legt mit dieser Konzeption den Kern des Stücks frei.
Die Figuren, die da auf der Bühne agieren: der geschundene Wozzeck, die sexhungrige Marie, der geile Tambourmajor, der Jammerlappen von Hauptmann, der zynische Doktor, sie alle sind, mögen sie auch als Irre und Wahnsinnige daher kommen, keine Menschen. Sie sind Puppen, Marionetten, geleitet von unsichtbaren Fäden, die ein unsichtbarer Spieler in den Händen hält. Das Fatum? Ein Gott? Vielleicht die Moiren oder die Erinnyen? Eine Antwort gibt die Regie nicht. Vielleicht deutet sie im Finale eine Antwort an? Im Finale weitet sich das Kasperletheater zu einer Tempelhalle (oder zu einem Gräberfeld?), das sich immer mehr perspektivisch verengt, und in diese Engstelle stürzt sich der Mörder Wozzeck zu Tode. Doch damit ist das Kasperletheater nicht vorbei. Im Epilog öffnet sich das Theater wieder neu, die grotesk geschminkten Marionetten sind wieder da. Das Kasperletheater kann im ewigen Kreislauf wieder von Neuem beginnen. Tragödie, Komödie, Farce, Satire, Puppenspiel, alles wird eins, alles überlagert sich, geht ineinander über.
In Zürich ist nicht nur ein Highlight des Regietheaters, in Zürich ist noch dazu eine grandiose Ensembleleistung zu bewundern. Hier ist jede Rolle mit Sängerschauspielern der Spitzenklasse besetzt – und in der Aufführung, die wir besucht haben, ist außerplanmäßig noch ein Kuriosum zu erleben. Der berühmte Bariton, der die Titelrolle übernommen hatte und den das Feuilleton zu Recht als „Ausnahmesänger“ bejubelt, konnte wegen einer Erkrankung nicht singen und war nur szenisch präsent. Und doch war er der Star des Abends. Dass Christian Gerhaher psychopathische Figuren wie Henzes Prinz von Homburg, den Pelléas oder einen alternden, todessüchtiges Don Giovanni grandios zu gestalten weiß, das konnten wir schon in Wien und in Frankfurt erleben. Doch wie er jetzt in Zürich allein mit den Mitteln der Schauspielkunst die geschundene, immer mehr dem Wahnsinn verfallende Marionette Wozzeck ‚zum Leben erweckte‘, das ließ dem Publikum geradezu den Atem stocken, das ließ jeden Huster verstummen.
Ich bin kein Alban Berg Fan. Doch wenn der Wozzeck in Szene, Gesang und Orchesterklang so brillant dargeboten wird wie jetzt in Zürich, dann wird man einfach zum Bergianer.
Wir sahen die Aufführung am 29. September 2015, die fünfte Vorstellung nach der Premiere am 13. September.