Diese hybriden Klänge aus Wagner, Strauss, Debussy, Lehár, die die unverbildete Opernbesucherin da zu hören glaubt, begründen sie wirklich einen neuen Stil? Ist diese Musik ein „Traum als tönendes Bild“, ein „aus der Assoziation von Klang- und Bildwirkungen entwickelter Operntypus“? (Ulrich Rügner). Ist diese Musik „100% Sexualität“? Ist sie „sexuell sehr extravagant, aber gleichzeitig sehr intim“? (Dan Ettinger).
Ist diese Musik wirklich so grandios? Mir fällt es schwer, den Lobeshymnen der Kritiker und Musiker zu folgen. Ich bin unsicher. Ich will ja nicht sagen, dass Der ferne Klang, vor allem die Traumszenen im Finale des ersten und dritten Aufzugs, nicht faszinieren, dass das Sehnsuchtsmotiv, nach dem der Komponist Fritz wie Heinrich von Ofterdingen nach der blauen Blume sein Leben lang sucht, nicht überwältigt. Und doch, vielleicht gerade deswegen, stellt sich im Finale geradezu zwanghaft die Wagner Assoziation ein, eine offensichtlich von Schreker gewollte und von der Regie auch so verstandene Assoziation. Der vom ‚Sehnen‘ erschöpfte Komponist stirbt in den Armen der wiedergefundenen Geliebten. Doch der letzte Gedanke – und jetzt setzt sich der Librettist Schreker vom Librettisten Wagner ab – gilt nicht Grete/Isolde, nicht der Liebe, sondern der Kunst, dem endlich gefundenen fernen Klang.
Der ferne Klang ist ein Traum, und als Traumdiskurs setzt ihn die Regie (Tatjana Gürbaca) auch in Szene, d.h. als ein Gemisch aus Erinnerungen und Wünschen, sich auflösenden Identitäten, grotesken Figuren und grotesken Szenen. Das vom Künstler um seiner Kunst willen verlassene Mägdelein erfindet sich im Traum ein Leben der Erotik und Sexualität, sieht sich selber als umschwärmte Kurtisane, und zugleich erfindet sie sich ein zweites Leben, ein Leben der den Künstler umsorgenden Mutter. Der ferne Klang ist letztlich kein spätromantisches Künstlerdrama, ist vielmehr ein Stück über Weiberträume und Männersehnsüchte: das Mädchen, die Kindfrau, die im Hause auf die Rückkehr eines Hans im Glück wartet, die femme fatale, das zugleich begehrenswerte und Furcht einflößende Weib, die mütterlich Sorgende, die zur Rückkehr in den Uterus einlädt.
All dies ist sehr obsolet, sehr abgestanden und schwer erträglich, szenisch offensichtlich nur als Traumdiskurs umsetzbar, als Traumdiskurs mit schwülem Sound-Track. Die Parodie, zu der Figurenkonstellation und Handlung eigentlich einladen, wäre eine Inszenierung gegen die Musik gewesen. Schreker ist halt nicht Offenbach, sondern ein von Wagner und Strauss und Goldmark und manch anderem ‚Gezeichneter‘.
Kein Zweifel, dieser Schreker, wie er da in Mannheim in Szene gesetzt wird, wie dort musiziert und gesungen wird – allen voran die Grete in der Person der als Sängerin und Darstellerin alle Mitwirkenden überragende Astrid Weber – dieser ferne Klang ist schon ein Opernereignis. Ja, wenn man diese schwüle Wiener Dekadenz aus den Spätjahren der Habsburger Monarchie mag.
„Die Musik ist 100% Sexualität“ – so lässt uns Maestro Ettinger im Programmheft wissen. Wirklich? Und was, verehrter Maestro, ist dann mit Wagner und Mahler? Orgasmus in Permanenz?
Wir sahen die Aufführung am 28. Juni 2015, die 4. Vorstellung. Die Premiere war am 10. Juli 2015