Spielen wir das Lied von Liebe und Lust, Treue und Schrecken – nebst Frust und lieto fine. Niccolò Jommelli: Berenike, Königin von Armenien. Il Vologeso an der Oper Stuttgart

In Stuttgart ist eine absolute Rarität zu hören und zu sehen. Jommellis späte Opera seria, die  im Jahre 1766 im herzoglichen Theater in Ludwigsburg uraufgeführt – und dann vergessen wurde. Die Stuttgarter Inszenierung von Il Vologeso, so lässt es uns das Programmheft wissen, sei die „erste Neuinszenierung seit 1769“. Und, sagen wir es gleich, diese Ausgrabung lohnt sich alle Male.

Zur Musik Jommellis, die einst, so belehren uns die Musikhistoriker, im 18. Jahrhundert mit zu der berühmtesten und erfolgreichsten ihrer Zeit gehörte, kann und darf ich als Nichtmusiker  nichts sagen oder allenfalls das Programmheft zitieren. Begnügen wir uns mit einer Bemerkung aus dem gelehrten Beitrag von Sergio Morabito, der seinerseits ein zeitgenössisches Zeugnis zitiert, den Elogio del Jommelli von Saverio Mattei  aus dem Jahre 1785. Hier heißt u. a. (in der Übersetzung Morabitos): „Wer vermag die Überraschung, die Verzauberung und den Enthusiasmus des Landes zu schildern angesichts dieser neuartigen Musik, in der sich das Starke mit dem Lieblichen, das Zarte mit dem Erhabenen, das Gelehrte mit dem Populären  verband?“

Dieses enthusiastische Lob bezieht sich zwar auf die Oper Temistocle. Aber es mag wohl auch für viele andere Werke Jommellis gelten und nicht zuletzt auch für das dramma per musica, das in Stuttgart aus dem ‚tiefen Brunnen der Vergangenheit‘ wieder hervor geholt wurde. Ein dramma per musica, das von der Liebe zwischen der Königin Berenike und Il Vologeso, dem König der Parther, erzählt. Beide sind Gefangene des römischen Kaisers Lucio Vero. Berenice, Objekt der Begierde des Kaisers, bleibt gegenüber allen Verlockungen und Drohungen des Kaisers standhaft, und Vologeso will auch um den Preis des eigenen Lebens nicht von Berenice lassen. Ein triangle d’amour aus Lust und Leidenschaft, Todesdrohung und Todesverachtung,  das, mögen Thema und Konstellation der Figuren auch auf die Barockliteratur zurückverweisen, dem ‚modernen‘ Komponisten die Möglichkeit bietet, die ganze Skala der Arientypen durchzuspielen.  Und dies tun er und seine Sängerinnen mit höchster Bravour.

Doch sprechen wir nicht von der Musik. Es steht uns, wie schon gesagt, nicht zu, diese analysieren zu wollen. Sagen wir nur, sie klingt für den Laien schön und gefällig, lädt dazu  ein, sie öfters zu hören. Und Berenice in der Person der Ana Durlovski und Vologeso in der Person der Sophie Marilley singen und spielen brillant und noch dazu anrührend.

Anrührend mag für das Spiel in einer Opera seria vielleicht nicht der adäquate Begriff zu sein. Doch für die Stuttgarter Inszenierung, wie sie Jossi Wieler und Sergio Morabito konzipiert haben,  trifft er wohl den Sachverhalt. Das Regieteam setzt keine Opera seria in Szene, sondern lässt in einer zerbombten Stadt vor ein paar Säulenresten und einem Sarkophag eine Gruppe junger Leute aus dem Viertel Berenike, Königin von Armenien spielen. Die ‚Laienschauspieler‘  steigern sich immer mehr in ihre Rollen hinein, so sehr, dass sie im Finale kaum noch  aus diesen herausfinden. Das  verzweifelte Liebespaar scheint ‚wirklich‘ dem Selbstmord nahe. Das obligatorische lieto fine, bei dem der Darsteller des Lucio Vero das schöne Mädchen dem Rivalen überlassen muss, nimmt ersterer nur recht unwillig hin. Die Dame mittleren Alters, die im Spiel die Seconda Donna gibt (im Libretto die Verlobte des Kaisers), hat alle Mühe,  den jungen Mann, der in der ‚Wirklichkeit‘ ihr Sohn sein könnte,  in die ‚Wirklichkeit‘  zurück zu holen, in eine ‚Wirklichkeit‘, in der der Freund des Jünglings ihr Liebhaber ist und der im Stück so verliebte Sohn leer ausgeht.

Opera seria als Doppelspiel, als Spiel zwischen Fiktion und ‚Wirklichkeit‘. Oder sagen wir genauer: Opera seria als Spiel zwischen zwei Fiktionen, die ineinander übergehen.

So haben wir denn in Stuttgart  eine anspruchsvolle Inszenierung gesehen und eine Musik gehört, die wir noch nie zuvor gehört haben, eine Musik, die es nicht verdient, von Komponisten und Musikhistorikern des 19. Jahrhunderts und deren jüngeren Gefolgsleuten in den Orkus geschickt zu werden. Aber vielleicht steht bald, wenn die Anzeichen nicht trügen, eine Jommelli und Hasse Renaissance in unseren Musiktheatern an

Wir sahen die Aufführung am 17. Mai 2015. Die Premiere war am 15. Februar 2015