Ich weiß nicht, ob Hindemiths Musik große Musik ist. Großmeister Adorno ist bekanntlich nicht gerade freundlich mit dem Komponisten umgegangen. Viele andere sind der gegenteiligen Meinung und schätzen Hindemith hoch. Mögen sich Musikhistoriker und Musiker über den Rang, der Hindemith im Musiktheater des 20. Jahrhunderts zukommt, streiten. In Wien ist zweifellos eine exzellente Aufführung von Mathis der Maler zu hören. Mit Wolfgang Koch in der Titelrolle und Kurt Streit als Kardinal Albrecht von Brandenburg stehen zwei grandiose Sängerschauspieler auf der Bühne, die in Gesang und Spiel in jeder Szene glaubhaft und ohne überflüssiges Pathos die Figuren des zwischen politischem und künstlerischem Engagement hin und her gerissenen Malers bzw. des zwischen Toleranz, Reformationsgeist und Orthodoxie schwankenden hohen Klerikers darzustellen wissen (um aus dem großen Ensemble nur die Protagonisten zu nennen).
Doch bei aller Brillanz in Spiel, Gesang und Orchesterklang, die im Theater an der Wien geboten wird, verlässt man nach knapp vier Stunden die Aufführung mit einem eher unguten Gefühl. Es liegt nicht an der Musik, die uns heute ja kaum fremd oder gar ungewöhnlich klingt. Ob Hindemiths Musik nun, um das berüchtigte Verdikts Adornos zu zitieren, „fiktive Gebrauchsmusik“ oder ob sie, wie der Kritiker der Wiener Zeitung meinte, „ein Archipel“ ist. „Eine Inselgruppe schöner Stellen wird von einem Meer rhythmischen Ratterns umspült“ (Christoph Irrgeher), das kann ich nicht beurteilen. Das Unbehagen, das diese Aufführung hinterlässt, hat wohl eher mit dem stofflich überladenen Libretto und der bombastischen szenischen Umsetzung zu tun. Beides evoziert die französische grand opéra. Beides erscheint wie eine epigonale Wiederaufnahme dieses Stils. Ja, wenn man die großen Gesten und das wilde Pathos in den Massenauftritten mag, wenn man Gefallen an der Stilisierung des Schöpfers des Isenheimer Alters zum Heiligen schon zu Lebzeiten findet…,ja, wenn man das mag. Mir war das von allem ein bisschen zu viel: Gewalt und Mord, Lynchjustiz und Vergewaltigung, Religionsstreit und Bauernkrieg, Faschismus und Bücherverbrennung, revoltierende Massen, ein Bauernführer, der die Revolution predigt, arrogantes Militär als SS-Verschnitt, Protestanten in schwarzen Mänteln und mit schwarzen Hüten als Talmud Schüler Verschnitt, Tableaux Vivants, nachgestellt nach der Versuchung des heiligen Antonius, das opferbereite Mägdelein, die politisch engagierte junge Dame und mittendrin der begnadete Künstler, der die ihm angeblich von Gott auferlegte Mission erfüllen muss. Das ist, wie gesagt, „too much“ – zu drastisch, zu plakativ, zu ‚realistisch‘, zu sehr historischer Schinken. Und über all dem schwebt ein gigantischer Crucifixus, eine Monumentalfigur, die sich je nach szenischem Bedarf auseinander nehmen lässt und dann von innen heraus magisch-rot glüht. Religiöser Kitsch? Vielleicht. Regisseur Keith Warner ist eben der Meister des großen Spektakels, eines auf die Dauer das Publikum erschöpfenden großen Spektakels.
Wir sahen die Aufführung am 16. Dezember. Die Premiere war am 12. Dezember 2012.