Aus dem Rahmen gefallen. Sehnsüchte, Wachträume, Albträume im kunsthistorischen Museum. Eine Stefan Herheim Carmen an der Oper Graz

„Ich hörte gestern – werden Sie es glauben? – zum zwanzigsten Male Bizets Meisterstück. Ich harrte wieder mit einer sanften Andacht aus, ich lief wieder nicht davon […]. Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher.“ An  das vergiftete, liebenswürdige Lob, das der ach so an Wagner leidende Nietzsche  dem guten Bizet   spendet, um ihn gegen den übermächtigen Wagner in Stellung zu bringen,  musste ich denken, als ich jetzt in Graz wieder einmal  – ich weiß nicht zum wievielten Male – die Carmen hörte. Eine Musik,  die in vielen ihrer ‚Nummern‘ zum Ohrwurm geworden ist und die ich nur noch schwer ertragen kann, mag sie auch Nietzsche, wenn wir ihn wörtlich und nicht ironisch verstehen wollen, als „böse, raffiniert, fatalistisch […] populär“  so hoch schätzen. Mehr noch als die Musik ist die Handlung abgespielt und zum Klischee erstarrt:  der Mythos von der femme fatale  nebst ihrem Widerpart und Komplementärmotiv: dem passionierten, gewalttätigen und dümmlichen Mannsbild.

Musik und Libretto, mögen die Intendanten auch damit  ihre Häuser füllen, sind für mich nicht gerade der Hit. Doch wenn Stefan Herheim die Carmen inszeniert, dann schaue ich mir auch noch einmal die Carmencita an.  Bei Herheim, das wissen seine Fans von dessen Entführung,  Rosenkavalier, Lohengrin, Eugen Onegin oder Rusalka, da werden die alten Geschichten auf  ganz neue Art erzählt, da entsteht aus überbordender Imaginationskraft, fundierter Kenntnis der Kulturgeschichte und handwerklicher Meisterschaft großes Theater, ein Theater, das  auf allen moralischen Impetus verzichtet und das vor allem amüsiert und unterhält. Und so war es jetzt auch wieder bei der Carmen  Inszenierung im  Grazer Opernhaus, die dort  vor nunmehr bald sechs Jahren ihre Premiere hatte.

Spielorte der Grazer Carmen sind ein Saal im kunsthistorischen Museum in Wien und – so im zweiten Akt – der Keller der Restauratoren (im Libretto Lillas Pastias Bar).Hauptpersonen sind eine junge Putzfrau mit ‚Migrationshintergrund‘  und ein Museumsaufseher. Nebenfiguren  und Chor sind  die aus ihren Bilderrahmen gestiegenen und lebendig gewordenen Gestalten, die als Micaela, als Offizier, als Zigeunerinnen Mercedes und Frasquita auftreten und die sich als Masse ins Spiel mischen. Die gute Micaela wiegt sich nicht in den Hüften, will nicht mit der bösen Carmen konkurrieren, wie wir das schon mal in anderen Versionen gesehen haben. Sie mimt eine ganz unerotische (natürlich blau gewandete) Madonna, und im Finale darf sie sogar als Schmerzensmutter dahinscheiden. Die Zigeunerinnen scheinen einem Genrebild des 19. Jahrhunderts entsprungen zu sein. Und das gleiche gilt für den Offizier und seinen Soldatentrupp. In der Unterwelt der Restauratoren treten  dann alle Bildfiguren gemeinsam auf auf:  Las Meninas gesellen sich zu Andy Warhols Marylin, Caravaggios Bacchus Knabe  nähert sich Bronzinos San Sebastiano, die Mona Lisa ist da und lüftet ihr Geheimnis, Caravaggios Amor schießt seine Pfeile ab, Vermeers flämische Bürgersfrau und die Klimt Damen und die Raffael Madonnen schreiten hoheitsvoll umher, und noch viele, viele andere sind da. Und sie alle feiern eine Freiheitsparty  – mit der Delacroix Marianne an der Spitze und erschrecken den armen Restaurator, der diese wild gewordenen Gestalten gern wieder in ihre Bilderrahmen stecken möchte. Natürlich ist dieses Spiel mit den Tableaux vivants, genauer:  dieses Spiel mit  zum Leben erwachten Figuren aus Mythos, Geschichte, Kunst- und Musikgeschichte nicht neu. Abgesehen davon, dass es ein häufig genutztes romantisches Motiv  und  ein  in früheren Zeiten gern verwendetes ‚Requisit‘ ist, ist  es einfach eines der Markenzeichen des Herheim Stils. Dort wird es (natürlich) zum ironischen Zitat. Im Amsterdamer Eugen Onegin hatte unser Theatermacher zur unglücklichen Liebesgeschichte gleich die Unglücksgeschichte Russlands miterzählt  und in Bilder umgesetzt. In seinem Berliner Lohengrin da spielen der kleine Sachse und Figuren aus dem Fliegenden Holländer und den Meistersingern gleich mit, und auch der Berliner Bürgermeister und sein Sprecher dürfen mitmachen. Im Stuttgarter Rosenkavalier da werden schon zur Ouvertüre die erotischen Phantasien der Marschallin zu Bildern. All dies wird immer höchst amüsant, höchst unterhaltsam präsentiert und fungiert zugleich  als ein Spiel mit dem kulturellen Gedächtnis der Zuschauer.

Das Spiel mit den lebenden Bildern, so sehr es sich auch in den Vordergrund drängt, ist indes nicht die Basis der  Grazer Carmen Inszenierung. Herheim setzt eine Variante des Carmen Mythos in Szene,  eine Variante, in der sich Kleinbürgerträume und populäre Sehnsüchte mischen und sich an der ‚Wirklichkeit‘ stoßen. Erzählt wird  der Traum der kleinen Putzfrau, die einen Hit aus der Carmen vor sich hin summt und mit den ersten Takten der Ouvertüre   gleichsam wie durch Zauber zu  dieser Carmen wird – zur Verblüffung und zum ungläubigen Erstaunen des Museumswächters, der  seinerseits zum Aufmarsch der Wache, die aus einem der großen Gemälde heraustritt, sich unter die Soldaten mischt, sich seinen Wunschtraum vom Soldatendasein erfüllt und in diesem Traum sich zum Brigadier José wandelt, der der Carmen verfällt. In Graz wird aus der Carmen eine Überlagerung von Traumdiskurs und Spiel mit lebenden Bildern. Wobei hinzukommt, dass der Traum immer wieder aufgebrochen wird, dass die alte ‚Wirklichkeit‘ sich gleichsam immer wieder zu Wort meldet. Ist José nun mit Carmen und ihren Freunden in die Berge geflohen oder starrt er nur als Museumswächter Josef auf Caspar David  Friedrichs Riesengebirge und träumt von der Freiheit?  Sind die dunklen Gestalten, die ins Museum einbrechen und die Bilder aus dem Rahmen schneiden nun  Kunsträuber oder sind sie die Schmuggler, mit denen er in die Berge fliehen wollte? Hat er nun im Finale die Zigeunerin Carmen oder die Putzfrau Carmencita erstochen? Oder hat er das alles nur geträumt? Für den Maler Escamillo, der sich so gern als Torero verkleidet und der die Schlussszene malt und sein Bild dem Publikum hinhält, muss sich José/Josef wohl mit der Putzdame gestritten haben. Das Bild zeigt die Reinigungskraft Carmencita bei der Arbeit.

In Graz ist eine höchst komplexe und bei aller Vieldeutigkeit doch auch eine höchst unterhaltsame  Carmen zu sehen. Die ewige Geschichte von der femme fatale und den unterdrückten Männerängsten und Männerwünschen wird zur Museumskomödie und zum Traumspiel, zum  für die Protagonisten (und die Zuschauer)verwirrenden Traumspiel, in dem alles möglich ist. Gelingen kann ein solch anspruchsvolles Konzept allerdings nur, wenn die Regie über ein spielfreudiges Ensemble herausragender Sängerdarsteller verfügt. Und dies ist zweifellos in Graz der Fall. Um nur ein Beispiel zu nennen: wie Jean-Pierre Furlan den biederen Museumswächter spielt und singt,  der gar nicht weiß, wie ihm geschieht und der sich dann immer schneller und ausweglos in die Rolle des Don José steigert, das ist einfach grandios und brillant.

Wir sahen die Aufführung am Samstag, den 9. Juni 2012. Es war laut Programmheft die 24. Vorstellung. Die Premiere war am 1. Oktober 2006.