Belcanto in Vollendung. Catherine Naglestad triumphiert als Norma an der Oper Stuttgart

Eigentlich bin ich nur nach Stuttgart gefahren, weil ich Jossi Wielers Norma Inszenierung, die  ich zuletzt vor sechs Jahren gesehen hatte und die mir damals mit ihrer Transponierung der Handlung in den italienischen Neorealismo so gut gefallen hatte, noch einmal sehen wollte. Und auch dieses Mal, mag sie inzwischen auch bald zehn Jahre alt sein und auch ein bisschen Patina angesetzt  haben, hat mich Wielers Interpretation der Norma  beeindruckt  – und amüsiert. Allein in der Aufführung, die wir am Ostermontag sahen, hatte sie einen schweren Stand. In Belcanto Opern – eine Erfahrung, die wir schon mehrfach machen konnten – braucht man eigentlich nur zwei oder drei herausragende Sänger, und alles andere ist Nebensache, reduziert sich  zu Contorni. So wurde  auch in Stuttgart angesichts einer alle und alles überragenden Catherine Naglestad  in der Titelrolle die Inszenierung, so anspruchsvoll sie auch ist, letztlich zur quantité négligeable. Die Naglestad singt  so brillant, so berückend, so schön Bellinis Melodienbögen, dessen unendliche Melodie, dass man nur noch staunen kann und versteht, was Wagner meint, wenn  er Bellinis „klare Melodie“ rühmt, den „einfach edlen und schönen Gesang, der uns entzückte“. Und so muss es ja auch bei einer Belcanto Oper sein. Ein besonderer Glücksfall  kommt in Stuttgart noch hinzu: auch die Partien der Seconda  Dama und auch die des Latinlover  Tenors  sind durchaus ansprechend besetzt. Und so hörten wir denn  an diesem Abend ein Bellini Konzert, waren bei einem Fest der Stimmen, wie man es in dieser Perfektion höchst selten erlebt. Und die Inszenierung? Für Jossi Wieler und seinen Dramaturgen Sergio Morabito ist die  Norma eine Anna Magnani aus einem Neorealismo Film, die im Nebenberuf Pfarrerin und Dorforakel ist und die unter Machos, Resistenza Partisanen und faschistischen Machthabern ihre Rolle spielen muss und die an ihrer Passion für den Faschisten Häuptling (im Libretto der römische Prokonsul in Gallien) zerbricht. Eine Variante der alten Geschichte von der ungewöhnlichen Frau, der revolutionären Frau, die sich über die Konventionen hinwegsetzt und von einem dümmlichen triebgesteuerten Macho und von einem Haufen politischer Fanatiker vernichtet wird. Eine süßliche Tragödie, zu der die Regie die Parodie gleich mitliefert: den Ehestreit, bei dem Anzüge, Hemden und Schuhe des untreuen Mannes gleich durch die Gegend fliegen, das versöhnliche Einvernehmen und die Allianz der beiden Frauen, als sie merken, dass sie beide denselben Liebhaber haben – man hockt sich auf das Bett, nach welchem sich beide sehnen. Der Macholiebhaber, der, als sein Komplott entdeckt ist, vor der Wut der beiden Frauen Reißaus nimmt. Die Freizeitpartisanen, die mit der Maschinenpistole ( ein mehr als ein eindeutiges Zeichen ihrer ’Männlichkeit‘) herumfuchteln, ihre Frauen malträtieren und sie schnell wegführen, als Norma/Magnani ihre Leidenschaft bekennt. Kein Zweifel: die Transponierung  des Geschehens in die Filmwelt des Neorealismo, das ist ein in sich stringentes Grundkonzept, eine Aktualisierung, die fasziniert und überzeugt. Doch der Belcanto, wie er in Stuttgart zelebriert wird, wenn man ihn denn mag, ist einfach so „schön“, dass keine Regietaten es mit ihm aufnehmen können.

Wir sahen die Aufführung am 9. April 2012, die letzte in dieser Spielzeit. Die Premiere war laut Programmheft am 29. Juni 2002.