Der Mythos lebt nur in seinen Varianten‘ – und seien sie auch noch so banal, seien sie auch noch so billig aktualisierend. Eine Hypothese, die sich beim Pariser Don Giovanni ein weiteres Mal bestätigt. In der Opéra Bastille nimmt man in dieser Saison die Don Giovanni Inszenierung eines bekannten österreichischen Filmemachers wieder auf, die dieser im Jahre 2006 im Palais Garnier herausgebracht hatte. Eine Variante des Don Juan Mythos, die diesen auf seine oberflächlichsten Komponenten reduziert. Dieser Pariser Don Giovanni hat nichts von einem Rebellen oder gar von einem Atheisten – die metaphysischen Komponenten werden ersatzlos gestrichen. Der Don Giovanni in Paris ist nichts weiter als ein haltloser angeberischer Typ, der sich dank seiner wirtschaftlichen und sexuellen Potenz jede Lust erlauben kann. Monsieur Giovanni ist wohl Vorstand eines großen Unternehmens, und Leporello ist sein Co-Direktor oder Assistent Manager. Zwei gelangweilte junge Männer im Business Dress, die sich eine Nacht lang in den weiten Fluren des Bürogebäudes amüsieren wollen: mal mit der Putzkolonne mit ‚Migrationshintergrund‘ (eine gewisse Zerlina gehört zu dieser), mal mit einer abgehalfterten Sekretärin (eine gewisse Elvira, mit der Giovanni mal eine Affäre gehabt hat und die sich noch immer Hoffnung macht). Ganz zu Anfang der wilden Nacht gibt es leider einen ärgerlichen Zwischenfall: Monsieur Giovanni amüsiert sich gerade in recht eindeutiger Position mit einer gewissen Anna, die nicht abgeneigt ist mitzumachen, als ein anderer Vorstand dazwischen tritt (er ist angeblich der Papa der hübschen Kleinen). Im Streit mit Giovanni kriegt der Papa einen Messerstich ab und verblutet. Und in diesem Stil geht es weiter. Natürlich gelingen der Regie mitunter recht hübsche oder auch spektakuläre Einstellungen, wenngleich diese, da die Bühne ständig im Halbdunkel gehalten wird, nicht so recht sichtbar sind: da fällt Donna Anna nach ihrem Rondo dekorativ in Ohnmacht, gleich vor der Kerze, die an der Stelle flackert, wo der Papa verschied, da tut Giovanni vor seiner ‚Champagnerarie‘ so, als wolle er sich gelangweilt aus dem Fenster stürzen. Im Finale da gibt’s natürlich keine Teufel und keinen Sturz in die Hölle. Alles Geschehen ist von dieser Welt. Die Putzkolonne, wohl von Anna und Ottavio angestiftet, will den lüsternen Chef ein wenig erschrecken oder ihm ganz einfach einen Streich spielen. Während aus dem Orchester die Höllenstrafen drohen, dringt die Putzkolonne von allen Seiten auf Don Giovanni ein, schiebt eine kopflose blutige Figur im Rollstuhl vor sich her – und Elvira ersticht den Mann, den sie nach dem romantischen Modell ‚Liebe als Passion‘ unbedingt für sich haben wollte. Die Putzer entsorgen die Leiche durchs Fenster. Don Giovanni eine Eifersuchtsstory in besseren Kreisen? Ein Fall für die Rubrik Faits divers der Tagespresse? Eine Farce und weiter nichts? Keine Frage, auch diese Variante des Mythos ist möglich. Und wenn der Zuschauer auch noch die Ausführungen im Programmheft gelesen hat, erscheint sie ihm sogar einigermaßen schlüssig. Für unsere französischen Freunde hatte die Regie ungewollt noch ein besonderes Zückerle dabei. Sie erkannten in dieser Don Giovanni Version sogleich die möglichen Bezüge zu einem bekannten französischen Politiker und Großbanker, dem einstens die Frauen nur so zufielen und der an einem Putzmädchen kläglich scheiterte. Doch, so fragt sich die Zugereiste, genügen solche Aktualisierungen wirklich einer Don Giovanni Inszenierungen? Zwar ist der Pariser Banker oder Vorstand Don Giovanni alle Male besser und durchdachter als der Trash Don Giovanni, den die Bayerische Staatsoper im Programm hat. Doch langweilig und banal sind diese Reduzierungen des Mythos alle Male, wobei die Pariser Variante wenigstens den Vorzug hat, dass man sie auch als „Fortsetzung des Programmhefts mit anderen Mitteln“ begreifen kann. Unser so viele Male preisgekrönter Filmemacher aus dem Habsburger Land ist letztlich an der Polyvalenz des Don Juan Mythos gescheitert. Und da ist er nicht der erste und nicht der letzte. Doch uns Zuschauern, die wir da gut drei Stunden im Halbdunkel ausgeharrt haben, uns blieben ja immer Orchesterklang und Gesang. Und die wurden in der Opéra Bastille unter der Leitung von Philippe Jordan auf höchstem Niveau zelebriert.
Wir sahen die Aufführung am 18. März 2012. Im März und April gibt es noch zahlreiche weitere Aufführungen des Don Giovanni.
Mag der Pariser Don Giovanni auch nichts Besonderes sein, so ist die Bob Wilson Inszenierung von Pelléas et Mélisande, die, wenn ich mich recht erinnere, vor mehr als einem Jahrzehnt in Salzburg herauskam und die jetzt in der Bastille noch einmal, ein letztes Mal, zu sehen war, noch immer ein Hit. Symbolistisches Theater in höchster Vollendung, antirealistisches Theater, das aus dem Spiel von Licht und Schatten und Lichtsymbolen lebt. Ritualisierte Bewegungen, minimalistische Gesten, die die Handelnden gleichsam zu Marionetten machen, die willenlos ihrer ‚Fatalité ausgeliefert sind. Eine szenische Umsetzung, die ganz den Konstituenten des Maeterlinck Libretto entspricht, ein Antimysterienspiel: Angst und Verzweiflung, Trauer und Melancholie, Krankheit und Tod, die präraffaelitische ‚femme fragile‘ mit ihrer kränkelnden Erotik, das hoffnungslose Ausgeliefert-Sein an ein blindes Schicksal, eine Antimärchenwelt, eine Sprache der Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit, die jegliche Kommunikation zwischen den Handelnden verrätselt und dazu diese scheinbar so einfache und doch so morbide Klangmagie eines Debussy, die das Orchester der Opéra Bastille unter der Leitung von Philippe Jordan herbeizaubert. Und natürlich ein internationales Ensemble der Spitzenklasse auf der Bühne. Das alles war sehr beeindruckend und zweifellos Musiktheater auf höchstem Niveau. Wie schade, dass wir nur ‚la dernière‘ hören und sehen konnten. Ich wäre gerne bei nächster Gelegenheit noch einmal hingegangen. Wir sahen die Vorstellung am 16. März 2012.