Im Schatten junger Mädchen Fieberträume.Jossi Wieler inszeniert eine grandiose La Sonnambula in Stuttgart

Um es gleich vorweg und ohne alle Einschränkung zu sagen: an der Oper Stuttgart wird nicht nur ein höchst brillanter Bellini Belcanto zelebriert. Hier ist auch die Inszenierung brillant. Hier zeigt  die szenische Umsetzung, was ‚Regietheater‘ im besten Sinne  des Wortes sein kann: eine Regie, die es nicht nötig hat, mit albernen Mätzchen herumzuspielen oder ein Stück zu zerhacken, sondern die verborgene Sinnschichten eines Textes aufzudecken und in Szene zu setzen weiß. Wie oft haben wir uns bei Belcanto Opern – zuletzt in Berlin beim Tancredi und in Barcelona bei der Linda di Chamonix – über das einfältige, oft sogar peinliche szenische Spektakel geärgert, das mittlere Theatermacher aus Belcanto Opern zu machen pflegen.  In Stuttgart ist alles anders. Hier passt alles zusammen.

Die scheinbar so simple Geschichte von der mondsüchtigen  Amina, von deren Krankheit die Dorfbewohner nichts wissen und die sie der Falschheit und der Untreue beschuldigen, weil sie sich  zu einem Fremden, den sie in ihrem somnambulen Zustand für ihren Bräutigam hielt, ins Bett gedrängt hat, aus dieser Geschichte  machen Jossi Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito das Psychoprogramm einer Verstörten.  Die arme Amina kann sich zwar vom Verdacht der Untreue befreien, als sie  als Somnambule vor allen Dorfbewohnern erscheint und als Traumerzählung  – oder vielleicht auch im „Fieberdelirium“  – ihre Liebe und Leidenschaft für ihren Elvino öffentlich bekennt. Und sie bekommt auch ihren Liebsten wieder. Doch anders als es das Libretto will, ist die Stuttgarter Sonnambula, als sie aus Traum und Delirium erwacht, nicht geheilt. Sie bleibt  inmitten der tumben Dörfler  eine Ausnahmefigur, eine von Krankheit gezeichnete  fragile präraffaelitische  Schönheit, eine hilflose Figur, mit der der simple reiche Jüngling, wenngleich er ihr mit allem Belcanto Schmelz seine Liebe – und seine Eifersucht- bekennt, letztlich nichts anzufangen weiß. So sitzen denn im Finale im großen Gastraum der Dorfschänke, wo  sie allesamt sich am Grappa verlustieren, die beiden Brautleute  sich gegenüber und singen schön und – schauen aneinander vorbei: ein oberflächlicher Jungmann, der mit Geldscheinen nur so um sich wirft, eine  kränkelnde junge Frau, die Liebe und Lust im Traum erlebt hat.

Oder ist vielleicht  alles  doch viel simpler? Ist alles nur ein Problem aus der gynäkologischen Praxis? Bekommt die junge Frau ihre mondsüchtige Phase und ihre Fieberphantasien nur in  der Phase der Menstruation? Ist deswegen ihr Kleid blutverschmiert? Finden deswegen die Dörfler sie in  blutverschmierten Laken im Bett des Fremden? Auch  diese medizinische Deutung für das Verhalten der Somnambulen suggeriert die Regie und nimmt sie vielleicht, wer  weiß das schon so genau, als Parodie der Adoleszenz zurück. Oder ist vielleicht die Stuttgarter La Sonnambula von Anfang an als Parodie angelegt? Auch für diese Deutung fehlt es nicht an Signalen: der große Saal der Dorfschänke, der mit leicht auf- und abklappbaren Holzbänken zugestellt ist, die  biederen Wandschränke, die sich zumindest in Komödien und Novellen so schön zum Verstecken eignen  als Einheitsbühnenbild. Die in die Jahre gekommene blonde Wirtin, die sich unbedingt den reichen Jüngling angeln will, der seinerseits vor der geplanten Hochzeit mit der Präraffaelitin sich erst mal Kraft und Stärke am Grab der Mama holen muss, der nach zwei Gläsern Grappa sich gleich auf die Braut stürzt, der in seiner Eifersucht und gekränkten Machoehre, diese gleich umbringen und aus Trotz vom Fleck weg die Rivalin heiraten will, die  tumben Dörfler, denen das sonderbare Verhalten der armen Amina unheimlich ist, die in der Nacht den Fremden, in dem sie den so lange schon entschwundenen Sohn des Grafen wiedererkannt haben, feierlich begrüßen wollen und sich dafür wie  Bauern der französischen Revolution, die das Schloss der Adligen stürmen wollen, mit Messern, Heugabeln und Äxten ausgerüstet haben, der Graf, der sich wie ein ertappter Liebhaber im Schrank verstecken muss, das stumme Gespenst – vielleicht die Mutter unserer Somnambulen  -,  das den scheinbar so aufgeklärten Grafen erschreckt. Materialien, die das Libretto größtenteils schon bereit stellt  und  deren komödiantische Potenz das Regieteam  in parodistischer Übertreibung noch verstärkt, ohne indes  ins Bauertheater  oder gar in die Klamotte abzugleiten.  Die ganze Inszenierung – und das macht vielleicht ihren Reiz aus – hält eine eigentümliche Balance zwischen der ernsthaften Erzählung vom eher tragischen Geschick der Protagonistin, für die es – so scheint es zumindest – kein lieto fine gibt und einer  Komödie im dörflichen Milieu. So überlagern sich denn, wenn man so will, wie in der romantischen Ästhetik das Sublime und das Groteske, das Tragische und Komische – zu beiderseitigem Nutzen.

In Stuttgart haben Jossi Wieler und Sergio Morabito in Zusammenarbeit mit einem brillanten Sängerensemble – allen voran Ana Durlovski in der Titelrolle – gezeigt, wie eine Belcanto Opera mehr als nur ein Fest der Stimmen, mehr als bloße Opernkulinarik für Stimmfetischisten sein kann. In Stuttgart hat man aus La Sonnambula  Musiktheater gemacht, wie man es sich besser und schöner nicht vorstellen kann. Wir sahen die Vorstellung am 13. März. Die Premiere war am 22. Januar 2012.