Nein, das meine ich gar nicht herabsetzend. Ganz im Gegenteil. Im Teatro Real werden gern Inszenierungen gezeigt oder besser gesagt: recycelt, die einstens – in der 80er und 90er Jahren – enthusiastisch gefeiert wurden und die, abgesehen vom historischen Interesse, das man ihnen entgegenbringen kann, noch immer beeindrucken. Vor gut einem Jahr sahen wir eine Wiederaufnahme und Neueinstudierung von Wernickes Rosenkavalier, und jetzt war mit La Clemenza di Tito eine Recycling Version der berühmten, für manchen Theater Begeisterten schon ‚mythischen‘, Inszenierung der Clemenza zu sehen, die im Jahre 1982 Ursel und Karl-Heinz Herrmann für Brüssel erarbeitet hatten und die in der Folgezeit auch in Salzburg zu sehen war. Wenn man so will, dann hat der Madrider Intendant Mortier gleichsam ein Juwel aus seiner Brüsseler und Salzburger Zeit noch einmal ausgestellt. Leider kann ich zur Inszenierung nur wenig sagen – aus dem einfachen Grund, weil ich einen Platz „mit eingeschränkter Sicht“ hatte, d.h. ich konnte nur einen Teil der Vorderbühne und der linken Seitenbühne sehen und sonst nichts. Im zweiten Akt, als die zwei sich langweilenden Besucher neben mir nicht mehr erschienen, fand ich einen besseren Platz und konnte so einen guten Teil der Bühne überblicken. Das wenige, was ich sah, war in der Tat beeindruckend. Die Hermanns verzichten in ihrer Inszenierung auf jegliche neumodische Deutung, zerstören in keiner Szene das Stück, zielen nie darauf ab, die Handelnden herabzusetzen, sie zu Psychopathen zu machen oder gar, wie das so mancher Theatermacher mit der Person des Tito zu tun pflegt, diesen zum tyrannischen Masochisten zu degradieren. Nichts von alle dem findet sich in der Inszenierung der Herrmanns. Vom klassischen französischen Theater lassen sie sich in ihrer Clemenza inspirieren, von der Seelenpein und den inneren Kämpfen, wie sie sie Racine seine Personen erleiden und erfahren lässt, und all das Steife, Getragene, das Theatralische, das für den heutigen Zuschauer Racines Gestalten in eine geradezu mythische Ferne rückt, lassen sie beiseite. Bei den Herrmanns agieren und leiden Tito, Sesto und Vitellia nicht wie Theaterfiguren aus ferner Zeit, sondern wie Menschen von heute, die mit ihren Zwängen und Ansprüchen an sich selbst nicht mehr zurechtkommen und keinen Ausweg mehr finden: mit anderen Worten: das scheinbar obligatorische lieto fine wird zu einem triste fine. Jeder bleibt allein zurück. Vitellia hockt in ihrer Staatsrobe am Bühnenrand, Sesto hockt in der Mitte der Bühne, und Tito verlässt einfach die Szene. Die aus Gattungszwängen ausgesparte Tragödie beginnt, vielleicht ähnlich wie im imaginären dritten Akt von Così fan tutte, wenn der Vorhang gefallen ist. Das Spiel ist zu Ende, ein Spiel, dem alle Theatralik fern liegt und das doch auf keinerlei ‚Realität‘ verweist. Eine Realitätsverweigerung, die schon das Bühnenbild suggeriert: ein vollkommen in aseptischem Weiß gehaltener geschlossener Raum, der sich im Bühnenhintergrund zu einer Säulenhalle perspektivisch verengen kann, ein trompe l‘oeil im Wortverstande. Einzige auffällige Farbtupfer sind die schwarze Robe des Vertrauten und das weite rote Kleid der Vitellia. In diesem realitätsfernen kalten Raum inszenieren die Protagonisten, getrieben von ihren Leidenschaften, ihr zerstörerisches Spiel, gegen sich selber und gegeneinander. Und dabei singen sie in allen Rollen so brillant, wie es schöner oder auch ergreifender kaum möglich ist. Das Rondo der Vitellia im zweiten Akt („Non più di fiori…“), ich weiß nicht, ob ich es so ergreifend gestaltet schon einmal gehört und gesehen habe (Amanda Majeski in der Rolle der Vitellia). Und das gleiche gilt für die Arie des Sesto („Parto…“), wie sie Kate Aldrich spielte und sang. Sollen wir noch hinzufügen, dass unter der Leitung von Maestro Hengelbrock das Orchester des Teatro Real Mozart geradezu zelebrierte. Musik und Gesang und Inszenierung vom Allerfeinsten. Opernkulinarik in Madrid. Wir sahen die Aufführung am 2. März 2012.