Die Eingeschlossenen: im Garten des Zaren und in Stalins Gulag. Stephen Lawless inszeniert Iolanta und Francesca da Rimini am Theater an der Wien

Wie  passen Tschaikowskis Märchenoper von der blinden Prinzessin Iolanta und deren wundersamer Heilung und Rachmaninows Antimärchenoper von der blinden Leidenschaft der Francesca da Rimini und von deren gewaltsamen Tod zusammen? Ich hatte beide Opern noch nie auf der Bühne gesehen und beide als Ganzes wohl auch noch nie gehört.  Entsprechend hoch waren die Erwartungen – und sie wurden nicht enttäusch. Im Gegenteil: sie wurden noch übertroffen. Im Theater an der Wien singt und spielt ein grandioses Ensemble brillanter Sänger. Der Abend bietet indes mehr als nur ein Sängerfest. Er ist auch ein Fest der Regie, die auf überzeugende und höchst beeindruckende Weise zwei Werke zueinander stellt, die scheinbar überhaupt nichts miteinander zu tun haben (ich spreche nur von den Libretti. Zur Musik, zu den möglichen Analogien zwischen Tschaikowski und Rachmaninow hütet sich die Dilettantin, etwas  zu sagen). Was die beiden Stücke verbindet, das ist auf den ersten Blick der Kontrast zwischen Märchen und Antimärchen. Iolanta ist ein Dornröschen, das im Wortverstande wach gesungen wird und wenn sie schließlich darin einwilligt, dass ihr die Augen geöffnet werden, dass sie aus ihrer Dunkelheit ins Licht tritt, dann geschieht dies ganz in Märchenmanier aus Liebe zu ihrem ‚Prinzen‘. Ja, und wenn sich im Finale alles zum Guten fügt und im Lobpreis eines gütigen und erbarmungsvollen Gottes kulminiert, dann sind wir in der Tat in einer Märchen- und Legendenwelt. Doch im Märchen verbirgt sich für die Regie schon das Antimärchen. In die scheinbar so heile Märchenwelt brechen die  roten Soldaten  der Oktoberrevolution ein. Werden sie  Prinzessin  Iolanta, Ihren ‚Prinzen‘, den Fürsten erschießen? Vielleicht. Die Gewaltexzesse  mögen sich in der Imagination der Zuschauer ereignen. Die Regie gibt keine Antwort oder besser gesagt: sie verschiebt die Antwort in die Francesca Oper. Von der Oktoberrevolution zum Gulag, so insinuiert Regisseur Lawless, ist es nur ein Schritt, und konsequenterweise  ist Francescas Hölle  nicht mehr Dantes Höllenkreis der Liebessünder, sondern der Gulag, in dem eine gewalttätige Soldateska die Gefangenen schikaniert. In dieser Welt wird der hinkende Malatesta zum Stalin Verschnitt, zum Diktator, der Francesca und Paolo durch seine Geheimpolizei überwachen und ermorden lässt. Das Märchen von der großen Liebe kulminiert im Antimärchen.  Die  Szenen im Gulag sind  in ihrem Hyperrealismus höchst spektakulär angelegt – nicht zuletzt dank des Bühnenbildes. Der Abstieg in die Hölle des Gulags geschieht über ein turmartiges offenes Stahlkonstrukt. Aus Dantes Höllentrichter ist – so erfährt der Zuschauer im Programmheft – der sogenannte „Tatlin-Turm“ geworden: „der nie realisierte  Turm  sollte […] die Dynamik der kommunistischen Revolution verkörpern“. Man  mag die Deutung der Francesca Episode, die Lawless vorschlägt, für überzogen oder vielleicht auch für abwegig halten und die angeblichen Relationen zwischen den beiden Stücken als für nicht zwingend erachten. Doch auf der Bühne funktioniert die Verbindung der beiden Stücke. Es ist nicht nur der Kontrast zwischen Märchen und Antimärchen, der die Regie Iolanta und Francesca  zusammenstellen lässt. Gemeinsam sind beiden das Leitmotiv der Tyrannis und mit diesem verbunden das Motiv der ausweglosen Eingeschlossenheit. Im  Märchen verschließt ein absoluter Herrscher seine blinde Tochter in einem scheinbaren Paradiesgarten und droht jedem, der sich dem Garten nähert oder das Geheimnis um die Tochter aufdeckt, mit dem Tode. Nur die nicht minder gewaltsamen Zwänge der Märchenstruktur, die ein ‚lieto fine‘ gebieten, geben der Eingeschlossenen Licht und Freiheit. Im Antimärchen der Francesca regiert nicht minder eine doppelte Tyrannis: die konkrete absolute Macht des Stalin/Malatesta und die Macht der Literatur: Malatesta nimmt Paolo und Francesca das Leben. Der Dante der Divina Commedia  schließt sie im Namen einer unerbittlichen göttlichen Gerechtigkeit in die Hölle ein. Aus dieser Hölle gibt es keinen Ausweg.

 Stephen  Lawless weiß all diese Verweise  auf Literatur und Geschichte (und auch noch manch andere, die uns entgangen sind) brillant in Szene zu setzten: in der Iolanta  verspielt und mit milder Ironie, in der Francesca drastisch und spektakulär. Ein großer Opernabend im Theater an der Wien. Wir sahen die Aufführung am 29. Jänner 2012. Die Premiere war am 19. Jänner 2012.