Und Nietzsche schaut zu – dem ’Fall Wagner’. Parsifal ohne Gral im Opernhaus La Monnaie in Brüssel
Parsifal beginnt in Brüssel in vollständiger Dunkelheit und quälender Langsamkeit – in klaustrophischer Gestimmtheit. Dann –nach wie viel Takten? ‚Das weiß ich nicht’ – dämmert auf dem Vorhang ein überdimensionales Nietzsche Porträt auf. Und gegen Ende des Vorspiels kriecht aus dem Ohr Nietzsches eine Schlange. Die Geburt der Musik, die Geburt des Bösen aus dem Geiste, aus dem Kopf Nietzsches? Seltsam. Der Zuschauer ist konsterniert. Eine Konsternation, die sich noch steigert, wenn der Vorhang sich zur ersten Szene hebt. Die Bühne ein grüner Dschungel, ein Gestrüpp und Gewirr von Bäumen und Lianen, aus dem – Von wo? – ‚Das weiß ich nicht’ – die Stimmen der Akteure klingen. Eine Rheingold Variante, die von einem Vegetationsurzustand erzählt? Ein Zitat aus romantischer Zeit, als man von der Harmonie zwischen Mensch und Natur träumte? Ein Bildverweis auf das Pflanzengewirr bei Henri Rousseau? ‚Das weiß ich nicht’. Theatermacher Romeo Castellucci, der für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, hat es in seinem Brüsseler Parsifal offensichtlich darauf angelegt, das Publikum zu verwirren – und Maestro Haenchen will es wohl mit seinen so zurückgenommenen Tempi und seiner Vorliebe für das immerwährende Piano einlullen und in einen sanften Wagner Schlaf versetzen. Seltsam. Dass ein heutiger Theatermacher nicht an Wagners Erlösungsgeschwafel glaubt und dass ihm die christlichen Dingsymbole und all die Zitate aus dem Arsenal der christlichen Liturgie suspekt sind, das überrascht nicht. Überraschend ist indes die Radikalität, mit der Castellucci das Erlösungsbrimborium beiseite fegt. Anders als so manch ratloser Theatermann, der sich bei den Gralsszenen in die Parodie flüchtet oder sich als säkularisierter Zeremonienmeister im liturgischen Geländespiel versucht, streicht Castellucci einfach die Gralsszenen, weigert er sich, diese für das Publikum zu visualisieren. Das Gralsmysterium ereignet sich für ihn nur in der Musik, vielleicht in der Imagination des Publikums, nicht auf der Szene: ein weißer Vorhang verschließt die Bühne. Will uns die Regie im Parsifal die Menschheitsgeschichte – ohne Gott neu erzählen? Ist das Nietzsche Porträt das Initiationssignal, das uns auf diesen Weg ‚geleiten’ soll? Erzählt uns der erste Akt vielleicht vom Garten Eden und von der Vertreibung aus dem Urzustand, wenn im Finale Bäume und Pflanzen zusammenfallen? Erzählt der zweite Akt von der Welt der Technik, von der Kunst, von der befreiten Lust, wenn aus Klingsors Zauberschloss ein Art Chemielabor geworden ist, in der ein verdoppelter Klingsor in Dalí Maske mit schlangenhaften Mädchen spielt, die dann ihrerseits als verführerische Doppelgängerinnen einer nonnenhaft weiß gekleideten Kundry agieren ? Erzählt der dritte Akt vom politischen Erwachen, wenn aus Wagners Gralsrittern eine unübersichtliche Masse von sich im ewigen Gleichschritt bewegenden Montagsdemonstranten wird, die gar nicht mehr des angeblichen Erlösers bedürfen und diesen im Finale einfach stehen lassen und von dem noch nicht einmal die zur unscheinbaren Mitläuferin mutierte Kundry etwas wissen will? Erlösung von oben unerwünscht? Den Gral gibt es gar nicht, und ‚Gott ist tot’. Oder ist das Motiv der sich ständig vorwärts bewegenden Massen ein Bildzitat? Henri Rousseau und die (scheinbar) naive Kunst im ersten Akt, surrealistischer Manierismus im Zeiten Akt, die „kollektive Energie“, von der ein Bill Viola träumt, im dritten Akt? War es das? Parsifal die Mär von der Geschichte der Bewusstwerdung der Menschen? War es das? – ‚Das weiß ich nicht’. Was sagt eigentlich das Programmheft? Das interessiert mich nicht. Ich weiß nur, dass in Brüssel ein grandioser, ein vieldeutiger, ein faszinierender Parsifal zu sehen ist. ‚Kinder schafft Neues’ – in Brüssel hat man sich an Wagners Diktum gehalten. Wir sahen die Vorstellung am 11. Februar 2011. Die Premiere war am 1. Februar 2011.