In Karlsruhe ist eine Rarität zu hören und zu sehen: Webers „große heroisch-romantische Oper“, vor der die Musiktheater wohl nicht wegen der Musik, sondern wohl wegen des krausen Libretto zurückschrecken. Kraus und krude ist in der Tat die Geschichte vom Ritter Adolar, der sich von seinem Feinde und Rivalen zu einer Wette auf die Constantia seiner Braut Euryanthe verleiten lässt, Braut und Besitz verliert, die Braut verstößt und dabei doch nur einer Eifersuchtsintrige aufgesessen ist und der am Ende doch alles schon verloren Geglaubte wiederbekommt. Vermischt und überlagert wird die Geschichte vom vordergründig gesehen nur rachsüchtigen Tölpel mit einer Wiedergänger- und Geistergeschichte: die Schwester des Ritters, die sich aus Liebeskummer selber meuchelte, kann nur Ruhe finden, wenn die Tränen einer Unschuldigen den Ring benetzten, aus dem sie das tödliche Gift trank. Wie setzt man diese Mischung aus Schauerromantik, Mittelalter Klischees, Ariosto und Cervantes Motiven (die Treueprobe) in Szene? In Karlsruhe haben sich Roland Aeschlimann und sein Team für den Traumdiskurs als Basis der Inszenierung entschieden und diesen mit Referenzen auf den Sommernachtstraum und auf Freud- und Strindbergmaterialien konkretisiert und überdies diese Traum- und Wahnwelten mit Motiven aus dem Initiationsritus der Zauberflöte kontaminiert. Eine Konzeption, die, mag das eine oder andere Motiv auch etwas platt und anderes vielleicht zu vulgärfreudianisch’ erscheinen, überzeugt und fasziniert. Schon zur Ouvertüre erscheint die stumme, gesichtslose in ein Leichentuch gehüllte Gestalt der Selbstmörderin, und in nahezu allen Szenen ist sie als stumme Zeugin präsent. Sie ist es, die sich Euryanthe als Opfer, als Instrument für die eigene Erlösung, erwählt hat. Sie ist die Spielleiterin und alle anderen sind Werkzeuge ihrer Inszenierung. Ein schauerromantisches Motiv, eine Variante des Dracula-Mythos, deren dramatische Funktion sich schnell erschöpfen würde, würde sie nicht von den Verweisen auf die Traumwelten gestützt. Die Treueprobe und deren sinistre Folgen und ebenso die Schauergeschichte von der ‚schnöden Revenantin’ ereignen sich in den Traumwelten des nur auf sich selbst, auf seine Musik und seine Muse Euryanthe bezogenen Künstlers und Ritters Adolar. Ein Traumspiel, in dem ganz im Sinne von Strindbergs Traumspiel alles geschehen kann, alles „möglich und wahrscheinlich ist […] Vor einem unbedeutenden Wirklichkeitsgrund entfaltet sich die Einbildung und webt neue Muster: ein Gemisch aus Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Absurditäten und Improvisationen“. In eine in dieser Weise strukturierte Welt steigert sich der Protagonist immer mehr hinein und zieht auch die naiv-unschuldige Euryanthe, eine Art Elsa avant la lettre und in ihrem Leiden eine neue Genoveva, mit hinein. Dieser an Strindberg gemahnende Traumdiskurs, der immer wieder mit Freudklischees verbunden wird, zieht sich von Anfang an durch die Inszenierung. Dunkel, schwarz gekleidet, nur bei den Frauen sind die Gesichter erkennbar, ist die Hofgesellschaft, die dem ebenfalls ganz in schwarz gekleideten Ritter aus einem Gazevorhang heraus schemenhaft, eben als Traumbild, erscheint. Albtraumgestalten, die Adolar, der sich an einen überdimensionierten Geigenkasten klammert (an die ihm verschlossene, unerreichbare Muse, an die für ihn unerreichbare Donna), bedrängen. Mögen der Geigenkasten und das in ihm verborgene Musikinstrument nebst seinen weiblichen Konnotationen, eine Art Leitmotiv der Inszenierung, in ihrer symbolischen Bedeutung schwanken, so ist anderes wiederum leicht zu entschlüsseln: die Treppe, die Stiege, auf der alles Geschehen sich abspielt, auf der auf- und nieder gestiegen wird, als ein Freudsches Sexualsymbolik. Das Dreieck auf der Höhe der Treppe, vor dem und in dem Euryanthe im ihr unbewussten Streit mit ihrer Rivalin um Adolar unterliegt, steht konventionell für das Weibliche („le sexe féminin“). Die Schlange, die Adolar attackiert und die er nur mühsam überwindet, erscheint natürlich in Gestalt der bösen Rothaarigen, die den armen Rittersmann und seine ‚süße Braut’ vernichten wollte. Und natürlich erscheint ihm diese Schlange in dem Augenblick, als er sich in seinem Wahn im Walde (im Wald der Sünde, im Wald der Sommernachtsträume verirrt hat) und an der Liebe seiner Braut irregeworden ist. Doch am Ende, ganz wie es sich für ein Märchen gehört, bestehen der Held und seine treue Gefährtin alle Prüfungen: die Initiation ist gelungen, die edle Selbstmörderin findet die ewige Ruh, „und es war alles, alles gut!“ Es gibt sicher noch manche relevante Besonderheit, die mir in der komplexen und zugleich so stringenten Inszenierung entgangen sein mag. Wie dem auch sei. Faszinierend und spannend ist die Karlsruher Euryanthe alle Male. Roland Aeschlimann hat gezeigt, dass auch ein scheinbar so wenig bühnenwirksames Stück, wenn man es nur in die ihm angemessene Welt der Träume und der Schauder zu transponieren weiß, einem aufgeschlossenen und interessierten Publikum zugänglich ist. Und dies erst recht, wenn wie jetzt in Karlsruhe durchweg berückend schön gesungen und musiziert wird (allen voran Edith Haller in der Titelrolle). Am Badischen Staatstheater hat man eine zu Unrecht fast vergessene Oper Webers neu entdeckt. Wir sahen die Premiere am 29. Mai 2010.