Sagen wir nicht, unsere Opernhäuser seien nicht sparsam oder schafften nicht Geld herbei. Innerhalb einer Woche sahen wir gleich zwei Produktionen der Bayerischen Staatsoper – erfolgreiche und umjubelte Produktionen –, die an andere Häuser verkauft worden waren. El Teatre del Liceu in Barcelona übernahm aus München David Aldens (leider schon etwas betagte) L’incoronazione di Poppea, und jetzt hat die Deutsche Oper Berlin Robert Carsens Ariadne eingekauft, die im vergangenen Sommer bei den Münchner Opernfestspielen Premiere hatte. Die Berliner Intendanz, die, um es freundlich zu sagen, nicht gerade von der Kritik verwöhnt wird, hat mit der Carsen Ariadne einen guten Griff getan. Ein volles Haus, ein begeistertes Publikum, ein positives Echo im überregionalen Feuilleton. Und dies zu Recht. Robert Carsen hat in seiner Inszenierung aus der angeblichen Kammeroper, aus der hybriden Ariadne mit ihrer Überlagerung von altehrwürdiger opera seria und moderner opera buffa geradezu eine französische Grand Opéra oder besser gesagt: eine opéra ballet mit Metatheatereinlagen gemacht – und verweist damit implizit auf Molières comédie-ballet und zugleich auf Hofmannsthals Intertertexte. Noch bevor es überhaupt mit dem Spektakel losgeht, wird der Zuschauer schon mit dieser Konzeption, mit dieser Grundidee der Inszenierung vertraut gemacht. Der Bühnenraum ist der Trainingssaal des Opernballetts, und dieses studiert gerade ein Stück ein – Ballettszenen zur Oper Ariadne, wie der Zuschauer und mit ihm der Auftragsgeber (der „reichste Mann von Wien“) gleich erfahren werden, wenn ihnen mit der Ouvertüre zur Ariadne, die als Ballettmusik fungiert, die eben geprobten fragmentarischen Szenen in einer Art Generalprobe als geschlossenes Stück vorgeführt werden.
Ein spektakulärer Metatheater Gag, dem im Laufe des Abends noch viele andere – manchmal auch recht konventionelle folgen werden. Doch theaterwirksam sind sie – zumindest für ein an eher biedere Inszenierungen gewöhntes Berliner Publikum allemal. Da tritt in der ersten Szene der Musiklehrer aus dem Zuschauerraum auf, da überreicht der Komponist nach dem „Vorspiel“ dem Dirigenten die gerade eben noch umgearbeitete Partitur und verfolgt die Uraufführung seiner Oper von der ersten Parkettreihe aus, da feiern mit dem Schlussbeifall alle Mitwirkenden den erfolgreichen Komponisten. Keine Frage, dass dieses Theater auf dem Theater Spiel sehr effektvoll ist und dass das Publikum seinen Spaß daran hat. Und wenn dann noch unser kanadisches Zwitschergirl (Jane Archibald, die wir schon in Genf als Zerbinetta bewundert haben) in ihrer großen Szene nicht nur mit ihrer „geläufigen Gurgel“ brilliert, sondern zusammen mit einem Dutzend Tänzern ihre Arie noch dazu spielt und tanzt, dann sind wir beinahe in einer Las Vegas Show oder vielleicht auch nur beim Fernsehballett live, und alle Trauer und Melancholie und alle Todessehnsucht, die mit der Figur der Ariadne verbunden sind, scheinen vor der Macht des Eros und dem Zauber der Koloraturen entschwunden zu sein -, wenn es eben nicht die Zwänge der opera seria gebe. Und diese verlangen, dass auch den Ariadne-Themen, der Ariadne-Musik Raum gewährt wird. Und wie die Koketterie der Zerbinetta sich im Spiel mit den Tänzern gleichsam vervielfältigt hat, so multiplizieren sich auch Trauer und Melancholie, wenn Klage und Gesten der todessüchtigen Ariadne simultan von ganz in schwarz gekleideten Todesboten oder Geistern aus der Unterwelt in Bewegung und Tanz umgesetzt wird. Gegen den erotischen Reigen um Zerbinetta steht der Todesreigen um Ariadne. Wenn Ariadne das Kommen des Gottes zunächst als Einladung ins Totenreich deutet, so ist es nur konsequent, dass ihr Dionysos als dunkel gekleidete Gestalt inmitten von schwarz gekleideten Begleitern erscheinen muss und dass erst im Augenblick der Erlösung und Verklärung das Dunkel weicht.
Erzählt uns die Regie in der Berliner (und Münchner) Ariadne den Mythos von Dionysos und Ariadne als eine Geschichte von Tod und Befreiung, von Erlösung und Verklärung, zitiert sie mit Hofmannsthal diese alte Variante des Mythos und will sie diese mit ihrer zusätzlichen Transponierung in Bewegung und Tanz noch ein weiters Mal variieren? Mag sein. Doch letztlich ist dies gar nicht so wichtig. Wichtig ist vor allem, dass in Berlin eine herausragende, eine ganz ungewöhnliche Ariadne auf Naxos zu hören und zu sehen ist: mit Sängern, wie man sie sich kaum besser wünschen kann und einer Regie, die nicht mit billigem Dekorationstheater Effekte erhaschen will, sondern die das Publikum fordert und es doch zugleich zu unterhalten vermag.
Die Berliner Premiere war am 8. Februar 2009. Wir sahen eine der ersten Vorstellungen. In München ist die Carsen Ariadne wieder bei den Opernfestspielen 2009 zu erleben, und ich schau sie mir noch einmal an.