05.12.2008 -Ein narzisstischer Jammerlappen….

Ein narzisstischer Jammerlappen im Plattenbau und auf der Skipiste  – oder ich schrieb auf meinen Bauzaun so manchen süßen Traum
Waltraud Lehner inszeniert in der Staatsoper Stuttgart Eugen Onegin als sentimentalen romantischen Kitschroman – und parodiert ihn gleich mit

Wer die grandiose Schwulenoper, die in der Bayerischen Staatsoper als Eugen Onegin zu sehen ist, noch in Erinnerung hat, dem wird der Stuttgarter Onegin trotz aller Aktualisierungsversuche nur öd und leer, bieder und konventionell vorkommen – zumindest auf den ersten Blick. Abgedroschene Romantik pur mit schwärmerischen kleinen Jungmädchen, einem Dichterling und einem unsäglichen Jammerlappen in der Hauptrolle, der im ersten Akt den blasierten Jungmann und im letzten Akt eine Art Wertherverschnitt mimt und den die einstmals Verschmähte und jetzt so sehr Begehrte erledigt und vernichtet. Nichts von Freundeskult oder Männerfreundschaft und schon gar nichts von schwuler Liebe, nur simples unglückliches Verliebtsein. Zwar ist es ein hübscher Einfall, aus Larinas Gutshof und Garten einen Plattenbau und eine Baustelle zu machen, die beide – so signalisieren es die bunten Prospekte der Baufirma – in eine mediterrane Villa mit luxuriösem Pool verwandelt werden sollen. Konsequent in diesem Kontext ist es, dass die vom Lektüreschaden gebeutelte Tatjana ihre Liebeserklärung an die Bauzäune und auf die Parkbank schreibt und dass der arrogante Onegin, der in einer Art Existentialistenoutfit auftritt, die Papierchen vom Bauzaun einfach nur abzureißen und die Parkbank abzuwischen braucht, um das Mägdelein von sich zu stoßen.

Aber vielleicht ist die schwarze Existentialistenuniform ein romantisches Zitat? Hatten neben den Existentialisten nicht auch manche Romantiker eine Vorliebe für düstere, schwarze Anzüge? Chopin und Liszt? Puschkin und Tschaikowski? Parodiert die Regie romantische Blasiertheit und romantisches Schluchzen als pure Pose, als – mit unmarkiertem Verweis auf Flaubert – Selbstinszenierung armseliger Typen? Ist die Schreibwut am Bauzaun der kleinen Tatjana nicht nur ein parodistisches romantisches Zitat, sondern zugleich auch ein parodistischer Verweis auf die Arkadienmode, die schon Cervantes parodiert hatte. (In einem der letzten Kapitel des El Quijote (Teil I) tummelt sich eine ganze Hundertschaft von Jünglingen, die ihre Liebesbriefe in Bäume ritzen). Ist vielleicht die Parodie aller Liebelei die Grundidee der Inszenierung? Ist vielleicht die Aktualisierung der Handlung und ihre Verpflanzung in ein neokapitalistisches Russland mit seinen Bauspekulationen und seinen mondänen Skiorten kein billiger Gag, sondern nur eine zusätzliche Parodiekomponente? Und ist vielleicht die letzte Begegnung der beiden Protagonisten in Schnee und Nebel nur eine Zauberbergvision des armen Onegins? Eine Parodie des berühmten Schneekapitels? Nicht mehr Hans Castorp, sondern ein Mini-Werther ohne den Mut, zur Pistole zu greifen, geht in die Irre?
Hat die Inszenierung einen solch hohen literarischen Anspruch? Ich weiß es nicht. In Stuttgart ist ein vieldeutiger Eugen Onegin zu sehen, eine Inszenierung, die die unterschiedlichsten Publikumsbedürfnisse befriedigt: schwermütige Romantik, romantischer Kitsch, Parodie literarischer Klischees, literarische Anspielungen und natürlich auch eine Prise Sozialkritik. Aus dem Orchestergraben erklingt ein schwelgerischer, manchmal süßlicher, manchmal (so in der Polonaise zu Beginn des dritten Akts) parodistischer Tschaikowski. Auf der Bühne singt und spielt ein brillantes Ensemble. Wer das alles mag, der kommt in Stuttgart auf seine Kosten.
Wir sahen die zweite Vorstellung. Die Premiere war am 30. November 2008.