Salome und die Meistersinger als Kontrastprogramm zum „Zuri-Fäscht 2010″

Salome und die Meistersinger als Kontrastprogramm zum „Zuri-Fäscht 2010“

Man stelle sich einmal einen Augenblick vor, das Münchner Nationaltheater, die Bayerische Staatsoper, stünde mitten auf der Theresienwiese, mitten drin im Oktoberfest. Während man im Hause hinter schalldichten Mauern und Türen Wagner und Strauss zelebriere, brande draußen vor der Tür der Trubel des bayerischen Bierfestes. Eine etwas skurrile Vorstellung, die vielleicht manchen Anhänger der ‚hohen Kunst’ erschaudern lässt. In Zürich kennt man keine Berührungsängste zwischen Hohem und Niedrigem, zwischen Groteskem und Sublimem. Da steht der Musentempel mitten drin im „Zuri-Fäscht“. Und kaum ist Salomes Liebes- und Todesgesang verklungen, kaum hat Sachs „die heil’ge deutsche Kunst“ gefeiert, kaum gehen die Türen des Theaters wieder auf, da dröhnen schon die hoch aufgedrehten Lautsprecher vom Zürcher Volksfest herüber. Geschiebe und Gedränge, Schweiß und Urin, Fastfood aller Arten, Bier und Wein in Fülle, Unrat und Essensreste, Hektik und Lärm allerorten. Ist halt „Johannistag“ draußen  und drinnen. Ein jeder feiert ihn auf seine Art, die da drinnen und die da draußen. Und jetzt habe ich endlich begriffen, was es heißt, wenn  frei nach Victor Hugo das  Groteske und das Sublime ineinander übergehen oder dass  auf die Tragödie das Satyrspiel folgen soll  und dass auf den Fliedermonolog bald die Beckmesser Satire und die Prügelszene folgen müssen. Ist halt „Johannistag“ – drinnen und draußen. Und wie feiert man drinnen? Eine brillante Inszenierung, Bayreuther Wagnersänger, ein glänzend aufgelegtes Orchester, ein berühmter Dirigent, der anders als bei seiner Pariser Walküre jetzt mit den Meistersingern die berüchtigte Wagner Droge anzurichten weiß. Wagner vom Allerfeinsten. Die Inszenierung irritiert zunächst: Kostüme, Requisiten, Bühnenbild, alles verweist auf das frühe 16. Jahrhundert, eben auf die Hans Sachs Zeit. Wollen Lehnhoff als Regisseur und Aeschlimann als Bühnenbildner, die wir doch als intelligente und kultivierte Theatermacher kennen und denen antiquiertes Ausstattungstheater  gänzlich fern liegt, wollen sie uns die Meistersinger als monumentalen historischen Schinken servieren? Das Rätsel löst sich, die anfängliche Irritation weicht dem Staunen und der Verblüffung, wenn sich der Vorhang zum zweiten Akt hebt: all der historische Plunder ist verschwunden, Zeit und Ort haben sich geändert, die altdeutschen Kostüme sind zu Biedermeierkostümen geworden, jeglicher Verweis auf ein historisches Nürnberg ist getilgt, das scheinbar Reale ist einer Traumwelt gewichen, in der nur die jeweils Handelnden ausgeleuchtet werden und alles Übrige in bläulichem Schatten liegt und in der die in manchen Inszenierungen nur noch peinlich geratene Prügelszene zur Gespensterszene wird, zum Tanz ganz in weiß gehüllter Gestalten. Der ganze zweite Akt gerät zum Traumdiskurs, in dem Aeschlimann schon seine Karlsruher Euryanthe und seinen Leipziger Parsifal erzählt hatte. Im dritten Akt, im berühmten Finale, wissen Regisseur und Bühnenbildner  Erstaunen und Verblüffung noch einmal zu steigern. Wieder haben sich  Zeit und Ort und Kostüme geändert: eine moderne, sommerlich weiß gekleidete Freizeitgesellschaft schaut sich in einem antiken griechischen Theater gleichsam inmitten von Schinkels Gemälde „Blick in Griechenlands Blüte“ nicht etwa die so schreckliche Deutschtümelei  beim Aufzug der Zünfte an. All diese Peinlichkeiten entfallen und werden durch eine Tanzeinlage: den Tanz der Mädchen und der Satyrn ersetzt. Und Beckmessers verunglücktes Preislied ist weiter nichts als eine Komödieneinlage vor dem Auftritt des Stars. Und spätestens jetzt im dritten Akt wird auch die Funktion des scheinbar so abwegigen historisierenden Beginns  deutlich: die Inszenierung basiert auf Bildzitaten und Verweisungen auf die Rezeptionsgeschichte. Im ersten Akt sind es die altdeutschen, die flämischen Meister und der altbackene  Inszenierungsstil, die zitiert werden. Im zweiten Akt ist  es ein Minimalismus, vielleicht auch der neubayreuther Inszenierungsstil, vielleicht auch der Traumdiskurs in Aeschlimanns Parsifal, auf die verwiesen wird und im dritten Akt ist es die deutsche Ideologie des Philohellenentums des 19. Jahrhunderts, die mit dem Bild des preußischen Baumeisters zitiert wird – und vielleicht auch der heutige Regietheaterstil und sein Versuch, die alten Geschichten neu und anders zu erzählen: „die heil’ge deutsche Kunst“, sie retten nicht die „deutschen Meister“, sie rettet allein die Orientierung an „Griechenlands Blüte“? War es das? Ich weiß es nicht. Es war allemal ein großer Opernabend in Zürich. Wir sahen die Vorstellung am 3. Juli 2010. Die Premiere war am 25. November 2003.

Die Salome am Abend zuvor war nicht minder ein Ereignis. Etwas anderes erwartet man auch gar nicht, wenn ein Musiker wie Christoph von Dohnányi und ein Theatermann wie Sven-Eric Bechtolf für die Produktion verantwortlich zeichnen. Keine Frage, dass die “äußerst  raffinierte neurotische Musik“ (von Dohnányi) in höchster Perfektion erklingt, dass die Regie über ein geistvolles und konsequent durchgezogenes Konzept verfügt. Regisseur  Bechtolf verlegt das Geschehen in die Entstehungszeit der Oper und lokalisiert es in das Umfeld der Wiener Secession. Zumindest weisen das Einheitsbühnenbild  und mehr noch die Kostüme in diese Richtung. Die Bühne ein Museum, vielleicht auch ein Theaterraum. An den Wänden rot gepolsterte Sitzbänke für die Besucher oder die Zuschauer. Der Prophet im langen schwarzen Mantel erinnert an das bekannte Selbstbildnis Klimts, Kleid und Maske der Herodias verweisen auf das Porträt der Adele Bloch-Bauer, Herodes erinnert in Statur und Kostümierung an Stucks Dionysos Bild, der knabenhafte Narraboth, „der junge Syrer“ in seinem weißen Anzug könnte ein Hofmannsthal Jüngling sein. Der Page und der schöne Syrer sind sich, wie könnte es anders sein, in homoerotischer Liebe zugetan. In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass im Finale der Page und nicht ein Trupp Soldaten Salome tötet – natürlich mit dem phallischen Dolch des Narraboth. Salome, zuerst im grau geblümten, im Finale  im langen weißen Kleid, sie wird sicher auch unter den dekadenten Wiener Damen aus Literatur und Kunst eine Verwandte haben. Eine durchaus bestechende Konzeption, die auf allen historischen Plunder verzichtet, alles platt Erotische zurückdrängt, dabei allerdings auch den Gegenpart des Erotischen, das tödlich Bedrohende zurücknimmt. In der Zürcher Salome findet sich wenig von schwüler Dekadenz, kaum etwas von Wahnsinn und Albtraum. Hier befinden wir uns eher auf einer aus dem Ruder gelaufenen Künstlerfête. Gesungen und gespielt wurde, ganz wie man das in Zürich gewohnt ist, auf hohem Niveau. Schade nur, dass die berühmt-berüchtigte Tanzszene  so gänzlich misslungen ist und in ihrer Biederkeit so sehr ans Peinliche grenzt. Wenn schon für den Tanz ein Double für die Darstellerin der Salome engagiert wird, dann erwartet man eigentlich ein bisschen mehr. Es muss ja nicht ein gleich ein fulminanter Todestanz wie bei der Münchner Salome sein. Doch Hüftgewackel und Bauchtanzgehabe, das zieht die Inszenierung unnötig herunter. Abgesehen von dieser Szene bietet Zürich eine weit überdurchschnittliche Salome. Doch liebe Zürcher mit der Münchner Salome, wie sie Nagano und Friedkin vor knapp vier Jahren in der Bayerischen Staatsoper auf die Bühne brachten, da könnt Ihr nicht mithalten. Wir sahen die Aufführung am 2. Juli 2010. Die Premiere war am 19. Juni 2010. Ja, und dann gab es am Abend zuvor noch den Freischütz. Und dazu sage ich am besten gar nichts. Hier gebietet die Höflichkeit nur eines: Schweigen.