Vor fünf Jahren, im Wagner-Jahr 2013, als wir die ersten Teile des neuen Leipziger Rings sehen und hören konnten, waren wir sehr angetan. Alles, so meine ich mich zu erinnern, stimmte damals. In Musik und Gesang, Tanz und Szene. Höchst gelungene Aufführungen waren damals zu erleben. (vgl. hierzu unsere damaligen Bemerkungen im Blog).
Und jetzt bei der Wiederaufnahme, da muss man so manche Enttäuschung hinnehmen. Die Enttäuschungen – sagen wir es gleich – beziehen sich nicht auf die Inszenierung, nicht auf Regie und Ausstattung. Rosamund Gilmore verzichtet wohltuend auf alle ideologischen Botschaften, erzählt nicht dunkel raunend eine Geschichte vom Anfang der Welt, sondern die zeitlose Geschichte von Macht und Raub, Gewalt und Betrug, von Lust und Leid und, um es ganz simpel zu sagen, die Geschichte von gescheiterten Beziehungskisten.
Spielort im Rheingold – daran erinnert man sich schnell – sind die Katakomben eines klassizistischen Palasts. Vielleicht auch eine im Dämmerlicht gehaltene Unterwelt. Ein Bühnenbild, das die Zeitlosigkeit des Geschehens evoziert und diese doch mit Referenzen auf Geschichte, Literatur und Malerei aufbricht. Alberich verweist von Kostüm und Maske auf Shylock, Wotan bei seinem ersten Auftritt auf Napoleon in dem berühmten Gemälde von seiner Kaiserkrönung, Fricka ist Alice im Wunderland, die kleinen Götter sind schwule Dandys aus der Wagner-Zeit usw. Die Tanzgruppe, die Musik und Geschehen in die Sprache des Körpers überträgt und damit eine weitere Dimension kreiert, mimt mal gesichtslose Lemuren, mal die Arbeitssklaven der Nibelungen, mal verrichten sie in tänzerischen Bewegungen die Arbeit der Bühnentechniker. Die Inszenierung fasziniert noch immer und hat keinerlei Patina angesetzt. Und das gleiche gilt auch für die Walküre mit ihren Referenzen auf den Krieg und auf faschistische Heldenfriedhöfe und nicht minder für Siegfried mit den Referenzen auf Klischees der englischen Schauerromantik. Bei der Götterdämmerung sind wir wohl im Foyer eines großen Theaters, spielen Theater im Theater? Vielleicht.
Doch wir wollen nicht noch einmal von der Inszenierung sprechen. Das Notwendige ist in den Beiträgen zum Rheingold, zur Walküre und zum Siegfried bereits gesagt.
Unsere Enttäuschung bezieht sich – wie schon gesagt – nicht auf die Szene. Sie bezieht sich auf den Musikpart. Und der lässt in den ersten Teilen so manche Wünsche offen. Seltsamerweise, obwohl doch die Wiederaufnahme des Leipziger Rings schon vor Monaten als grandioser Event angekündigt und vermarktet wurde, sind, so im Rheingold, nicht alle tragenden Rollen optimal besetzt – ganz im Gegensatz zu den kleineren Rollen. So werden eben nicht die Wotan Szenen (der Sänger des Wotan war wohl an diesem Abend nicht in der gewohnten Hochform), sondern die Erda- und die Mime Szenen Höhepunkte des Rheingolds. Erda in der Person der Claudia Huckle und Mime in der Person des Dan Karlström.
Maestro Schirmer – so schien es mir – wollte seinem Publikum am „Vorabend“ wohl noch nicht den berühmt-berüchtigten Wagner-Rausch bereiten. So ging es eher bedächtig und gemütvoll zu. Nennen wir das, was da aus dem Graben erklang, salopp einen Nachsommer Wagner.
Mit der Walküre, wie sie uns Maestro Schirmer mit dem Gewandhausorchester interpretiert, habe ich – mit Verlaub gesagt – meine Schwierigkeiten. Schirmer setzt auf einen sanften, genüsslich im Piano verharrenden, nicht auf einen aufbrausenden, leidenschaftlichen Wagner. Die Leidenschaft, die uns Siegmund und Sieglinde vorspielen, ist – so suggeriert es die Musik in Leipzig – eine eher verhaltene Liebe. Nachsommerliebe statt ‚Liebe als Passion‘. Vielleicht ist diese Zurückhaltung auch ein Zugeständnis an einen etwas in die Jahre gekommenen, zwar noch immer makellos und einfühlend singenden, doch etwas tapsig wirkenden Siegmund (Dean Smith) und an die ältlichen, mitunter recht gebrechlichen Wagnerianer, die den Saal füllten. Weder Sänger noch Wagnerianerinnen noch Wagnerianer sollten wohl allzu sehr gefordert werden.
Kaum anders geht es im zweiten Akt zu. Es plätschert halt alles so geruhsam vor sich hin. Ja, wir wissen schon: müd und matt ist der Gott Wotan. „Nur eines will ich noch, das Ende“. Und Siegmund will wohl auch nichts anderes mehr. Leidenschaft, ja, was war das noch.
Erst im letzten Aufzug, da ist mit einem Male alle Schläfrigkeit wie weg geblasen. Da wird endlich mit Schwung und Passion musiziert und gesungen. Der Sänger des Wotan (Iain Paterson), der sich im Rheingold so schwer tat und so müde im zweiten Aufzug erschien, wirkt jetzt im dritten Aufzug geradezu wie ausgewechselt. Jetzt kann er lyrisch und leidenschaftlich sein. Seine Stimme gewinnt immer mehr an Brillanz, und er weiß durchaus mit dem „kühnen herrlichen Kind“ – Brünnhilde in der Person der Christiane Libor mitzuhalten. Und jetzt wartet man nicht mehr auf das Ende, sondern bedauert, dass es schon zu Ende ist.
Und wie geht’s beim Siegfried zu? Auch hier hält man sich im Musikpart wohl an die einmal gewählte Grundkonzeption und lässt es langsam angehen. Einschläfernd? Nein, einschläfernd ist es nicht. Es ist eher so, all wolle man in jedem Fall ein „Ertrinken, Versinken. Höchste Lust“ vermeiden. Bitte nichts Narkotisierendes. Keine Überforderung. Doch ein gedämpftes Orchester brauchten die Sänger an diesem Abend in keinster Weise. Sie waren allesamt in Hochform. Allen voran Christian Franz. Mag seine große Bayreuther Zeit auch schon ein Jahrzehnt zurückliegen, dieser Sänger ist noch immer ein grandioser Siegfried, ein Siegfried, der sich auch im so fordernden letzten Aufzug von dem geradezu aufbrausenden „wild wütenden Weib“ (Christiane Libor) nicht an die Wand singen lässt. Im dritten Aufzug dreht nun wirklich die Musik auf, da gibt’s den großen Klangrausch, da gibt‘s die Wagendroge in stärkster Dosierung, da kommt der „Wecker“, der auch die letzten Schläfer im Publikum wach rüttelt, der die anämischen Jünglinge und verbiesterten Greise ahnen lässt, dass es wohl mit der Liebe und der Leidenschaft etwas auf sich haben müsste.
Bei der Götterdämmerung gibt’s nichts zu bekritteln. Hier sind alle Mitwirkenden in Hochform. So als ob sie sich eingesungen und eingespielt hätten und der Maestro alle Bedenken gegenüber zu viel Leidenschaft beiseite geschoben hätte. Hier erschlägt einen geradezu die Musik. Hier wird der Klangrausch exzessiv. Hier brilliert Thomas Mohr als Siegfried, und Christiane Libor, die auch in der Götterdämmerung wieder die Brünnhilde singt und spielt, kann zu Recht zeigen, dass ihr wohl der Ehrentitel der Leipziger Wagner-Hausgöttin gebührt. Wie sie ohne hörbare Ermüdungserscheinungen und ohne sich auch nur einmal in ‚Schreigesang‘ flüchten zu müssen, diese Mammut- Rolle so grandios zu singen und zu gestalten weiß, das kann man nur bewundern.
Bei diesem großen Spektakel, zu dem sich Orchester und Solisten steigern, wollte wohl auch die Regie nicht zurückstehen und greift dabei – leider – zu einer nicht gerade subtilen Symbolik. Der tote Siegfried ruht auf einem weißen Flügel, auf dem auch Platz für Brünnhilde sein wird. Gesichtslose Lemuren kriechen aus dem Untergrund hervor und greifen sich die Götter. Vom Bühnenhimmel fallen mit Noten beschriftete Tücher. Leichentücher, die das ‚hohe Paar‘ bedecken. Überdeutliche Signale, die wir alle im Saal verstehen. Das Ende der Götter und der Helden ist auch das Ende der Kunst ,das Ende der Musik.
Wie dem auch sei. Trotz aller Krittelei. Wagner hat uns wieder einmal gefangen genommen. „Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagners – sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musikerwelt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. […] unsere großen Theater leben von Wagner“. (Nietzsche, Der Fall Wagner).
Wir besuchten die Wiederaufnahme des Leipziger Rings vom 11. bis zum 15. April 2018.