Ein seltsames Pastiche wird da in Düsseldorf geboten. Ein Pastiche aus Szenen aus dem Fliegenden Holländer und Zitaten aus den Wesendonck Liedern, ein Hommage an den Literaten und Komponisten Wagner, der mit Texten von Heinrich Heine und Hans Christian Andersen garniert wird und zu dem Helmut Oehring Klänge von heute beisteuert. Ein Konglomerat aus Musik und Texten, das der Tonsetzer als „Antwortoper“ verstanden wissen will. Warum nicht. Warum soll man nicht eine Oper als Replik auf Wagner schreiben und diesen darin ausführlich, nein sogar sehr ausführlich zitieren. Couragiert und selbstbewusst ist das alle Male, wenngleich sich mir da ein Klischee aus dem Mittelalter aufdrängt: das Bild von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen und deswegen glauben mehr zu sehen als diese. Ob unser zeitgenössischer Komponist mehr gesehen hat als Wagner, uns neue musikalische Sphären erschlossen hat? Ich weiß es nicht. Die Musikhistoriker und die Feuilletonkritiker werden es wissen.
Gemeinsam ist allen Texten und aller Musik, die da in Düsseldorf zu hören waren, dass sie Träume und Träumereien, Albträume und Sehnsüchte umspielen, scheinbar Fluchtwege aus der ‚Realität‘ aufzeigen und doch die Protagonisten an dieser ‚Realität‘, an der Wirklichkeit des neuen Industriezeitalters scheitern lassen. Zweifellos ein fruchtbares Thema, ein romantisches, ein antiquiert romantisches Thema, der berühmte Kontrast zwischen ausschweifender Imagination, die sich eine eigene Welt erschafft und einer trivialen Wirklichkeit. Bei Wagner ein Senta- oder auch ein Mathilde Kasus. Die Handelnden bei Oehring sind indes nicht nur Wagner Figuren. Die Wagner Figuren generieren gleichsam ihre eigenen Verdoppelungen. Senta und Mathilde generieren eine stumme junge Frau, die in der Gebärdensprache deren Sehnsüchte mitspielt und nachspielt und die sich überdies mit Andersens Meerjungfrau identifiziert. Der Holländer findet in einem irren Kontrabassisten seinen Gegenpart, und der ruhelos reisende Unternehmer Wesendonck nimmt seinerseits Züge des Holländers an. Der Erzähler könnte Wagner selber sein oder auch Heines „Herr von Schnabelewopski“, der die Geschichte vom Fliegenden Holländer vorträgt und der seinerseits von einem zweiten Erzähler karikiert wird, der an einer Sprachstörung leidet und deswegen nur unartikulierte, durchweg unverständliche Laute hervorbringt.
Einheitsszene ist eine „Industriekathedrale“ des 19. Jahrhunderts, die sich je nach Bedarf in einen Maschinenraum für Dampfturbinen, in einen protestantischen Andachtsraum, in einen Friedhof, in einen großbürgerlichen Salon oder einfach in einen leeren Raum verwandeln lässt. Und inspiriert von diesen Räumen erklingt immer wieder Wagner-Musik: der Matrosenchor bei den Dampfturbinen, Sentas Erlösungswahn und die Zweifel des Holländers im Gebetsraum, die Wesendonck Lieder im Salon, bei denen Mathilde (vor lauter Träumereien?) dahinstirbt und der irre Kontrabassist sein Instrument zu Dissonanzen quält. Und im Finale da phantasiert sich die stumme Wiedergängerin der Senta in das Schicksal von Andersens Meerjungfrau, hinein, in das Sterben der kleinen Meerjungfrau – so meinte ich es verstanden zu haben.
Ein seltsames Pasticcio hat da mit gewohnter Intelligenz und Phantasie Claus Guth in Szene gesetzt. Und wie seltsam: das Düsseldorfer Premieren Publikum ist begeistert. Weil es die populären Szenen von Wagner wiedererkennt, weil Oehrings Klänge weder verschrecken noch provozieren, weil unserem bürgerlichen Publikum romantische Sehnsüchte, auch wenn sie verfremdet werden, nicht fern stehen? Ein seltsamer Abend in der Deutschen Oper am Rhein.
Wir sahen die Uraufführung, die Premiere, am 8. März 2013.