Die Goldkehlen und die Starmusiker von der Bastille Oper. Don Carlos an der Opéra National de Paris.

Sie singen so exzellent und so brillant. Sie musizieren  – unter der Leitung von Philippe Jordan – so berückend schön. Sie bereiten geradezu einen Verdi-Rausch.

Für wen? Für die internationale Kohorte der Luxusrentner? Für die gelangweilte Bourgeoisie aus dem XVIe? Für die Dame, die zur ersten Arie der Princesse Eboli ihr Telefon klingeln läßt? Für die vielen Reichen und die wenigen Schönen, die gleich in der ersten Pause die Bar im Foyer stürmen? Für die Melomanen aus der Welt von Gestern, die mit modernem Musiktheater nichts anzufangen wissen und glauben, die  Inszenierung ausbuhen zu müssen? Nein, für all diese singen und musizieren sie nicht.

Sie singen und spielen und musizieren für ein aufmerksames und begeisterungsfähiges Publikum. Und  dieses findet sich immer noch in Paris zuhauf.

Das Aufgebot von Weltstars der Opernszene, die sich in Paris versammeln, ist in derTat beeindruckend. Jonas Kaufmann als Don Carlos, Ludovic Tézier als Rodriguez, Elïna Garanča als Princesse Eboli, Sonya Yoncheva als Élisabeth de Valois, Ildar Abdrazakow als König Philippe. Besser geht es wohl kaum. Verdi-Belcanto in Vollendung. Startheater vom Allerfeinsten. Allgemeine Begeisterung im ganzen Haus. Ein Fest für Melomanen.

Und ein seltsam aufgestauter Unmut, der sich lautstark gegen die Inszenierung richtet, gegen die Regie, für die Krzysztof Warlikowski verantwortlich zeichnet.

Warum dieser Widerwille? Warum dieses unzivilisierte Buhgeschrei gegen einen großen Theatermacher? – Weil keine Klosteranlage, kein Königspalst, kein Escorial, kein Wald von Fontainebleau, kein Gartenfest bei der Königin zu sehen waren? Weil die prachtvolle (museale) Ausstattung, die sich so mancher für die Grand-Opéra wünscht, fehlte? Weil die Inszenierung Rätsel aufgibt und Zeit und Raum im Unbestimmten läßt? Weil die Regie die Figuren dekonstruiert, ihnen alles ‚Heldenhafte‘ und alles Tragische nimmt, sie herabzieht und banalisiert und nicht zuletzt auch parodiert?

Dieser Don Carlos, wie ihn die Regie gleich von der ersten Szene an präsentiert – im Schlabberlook mit verbundenen Händen -,  dieser Don Carlos, wie er vergeblich versucht, die unerfüllte Leidenschaft für Élisabeth in politische Leidenschaft umzuwandeln, dieser Don Carlos ist nichts anderes als ein erbärmlicher Jammerlappen. Ist er  – die erste Szene legt diese Deutung nahe – ist er ins Irrenhaus oder in ein Museum verbannt worden und erlebt im Rückblik noch einmal seine Geschichte? Ist Élisabeth vielleicht nur Museumsfigur, wie sie da an einem Pappmaschée Pferd lehnt?

Ist all das, was wir sehen, nur ein zittriger Dokumentarfilm aus der Stummfilm Zeit, dem man als Soundtrack Musik von Verdi unterlegt hat? Oder sind wir im 19. Jahrhundert, in der Entstehungszeit der Verdi Oper? Ist der König in seinem Generalslook vielleicht eine Karikatur der heutigen spanischen Bourbonen? All dies und noch vieles mehr sorgte offensichtlich für Irritationen bei nicht wenigen Besuchern, die wohl nur Opernkulinarik und nicht eine Deutung gegen den Strich erwartet hatten.

Und gegen den Strich gebürstet wird diese Grand-Opéra in der Tat – und dies nicht nur bei der Figur des Don Carlos. Der König ist kein seniler Opa, sondern ein Mann in den besten Jahren. Wenn er sein berühmtes Lamento singt, dann hockt kein Greis mit Wadenwickeln auf seiner Bettstatt, sondern ein frustrierter Liebhaber, der sich gerade mit der Eboli vergnügt hat, hockt zwischen den Sesseln in seinem kleinbürgerlichen Wohnzimmer. Der König ist nichts anderes als ein triebgesteuerter Mann in der Midlifekrise.  Das ist mehr als  eine ‚Dekonstruktion‘,  das ist eine Parodie der Wunschkonzert Lamento Arie. „Elle ne m’aime pas! non!“

Und in diesem Sinne geht es weiter. Der so edle Rodriguez ist kein Freiheitskämpfer, sondern die Parodie eines Gutmenschen, der alles besser weiß und mit dem Kopf durch die Wand will. Élisabeth de Valois ist ein willenloses, verhuschtes Mäuschen, das  sich in den Selbstmord flüchtet, das von der schönen, ehrgeizigen Eboli, einer femme fatale, geradezu an die Wand gespielt wird.

Das mag alles ein bißchen zu viel sein für ein Publikum, das an eher konventionelle Inszenierungen gewöhnt ist. Aber ist das ein Grund, einen so intelligenten und provokativen Theatermacher wie Warlikowski, der in seinen Inszenierungen immer wieder eine neue, eine oft unerwartete Deutung altbekannter Stücke vorschlägt, auszubuhen?

Für mich ist der Pariser Don Carlos in Musik und Szene großes,  brillantes Musiktheater.

Wir sahen am 13. Oktober 2017 die zweite Aufführung dieser Produktion. Die Premiere .war am 10. Oktober 2017.