Nach Bayreuth, nach den Meistersingern und Tristan, nach dem Ring und Parsifal, nach diesem ‚Ertrinken‘ – ‚Versinken‘ in Wagner Klängen kommt einem Debussy mit seinen Referenzen auf den Parsifal zunächst leer und fad vor. Und doch entwickelt auch die Pelléas et Mélisande Musik mit ihrer Sanftheit und Zurückhaltung, einer Musik, der alles Dröhnen fern liegt, im Laufe des Abends geradezu eine Sogwirkung. Und dies vor allem, wenn sie so eingängig zelebriert wird wie jetzt von den Bochumer Symphonikern unter der Leitung von Sylvain Cambreling.
Ja, und wenn dann noch ein Star, ein Multitalent wie Barbara Hannigan, die Hauptrolle übernimmt, dann steht einem großen Opernabend nichts mehr im Wege. Wie die Hannigan als Sängerin und Schauspielerin brilliert und die Szene dominiert, wie sie von der Alkohol süchtigen Barbesucherin über die femme fatale, die Filmdiva, die Leidende und Verstoßene bis hin zur Dahinsiechenden ganze Register von Frauenrollen mit Leichtigkeit glaubhaft durchzuspielen weiß, das ist einfach bewundernswert.
Debussy schrieb das Libretto selber nach dem damals so berühmten gleichnamigen Stück von Maurice Maeterlinck. Ob man dieses Theater der Vieldeutigkeit und der Überdetermination mag, diese ewig um sich selber kreisenden Themen von Tod und Ausweglosigkeit, von Fatalität und Albtraum, dieses lustvolle Quälen fragiler und zugleich fataler Frauengestalten ertragen kann, ob man sich mit dieser düsteren Antimärchen Atmosphäre anfreunden kann, einem Theater, das sich gezielt von allem ‚Realen‘ absetzen will?
Das Publikum von heute, dem Maeterlincks „symbolistisches Theater“ nicht mehr vertraut ist, findet nur schwer Zugang zu dieser Welt. So sucht ihm die Inszenierung den Einstieg leicht zu machen. Sie lässt einen einführenden Monolog vortragen, verlegt die erste Szene aus Maeterlincks Wald in eine Bar, macht aus dem hilflosen Mädchen, das Golaud im Wald findet, eine stark angetrunkene junge Frau, die am Tresen der Bar hockt, macht aus dem düsteren Schloss eines mittelalterlichen Königs den Holz getäfelten Musiksaal einer großbürgerlichen Familie, die mit zum Orchester gewandten Gesicht Pelléas et Mélisande hört, sich mit den Gestalten des Dramas identifiziert und dieses nachspielt.
Krzysztof Warlikowski und sein Team haben sich bei ihrer Inszenierung für eine hybride Grundkonzeption entschieden, eine Konzeption, bei der sich verschiedene Schichten überlagern. Eine scheinbar ‚reale‘: die Bar, der großbürgerliche Salon, die Waschräume einer Schlachterei. Eine Metatheater Ebene: die Familie, die sich selber spielt, die Gleichzeitigkeit des Geschehens als Spiel auf der Szene und als Videosequenz, das Parallelisieren der Handlung und deren Deutung über Zitate aus Hitchcock Filmen wie Die Vögel und – so schien es mir – Vertigo All dies mischt die Regie geradezu zu einem Thriller auf.
Die weitläufige ehemalige Industriehalle, die die Ruhrtriennale für ihre Aufführungen nutzt, verlangt schon wegen ihrer Ausmaße geradezu nach diesem Inszenierungstypus. Orchester und Publikum sind jeweils am Ende der Längsseiten platziert. Spielfläche ist die gesamte Mitte und zusätzlich ein schmaler Aufbau hinter dem Orchester, der gleichzeitig als Projektionssfläche für die Video Einspielungen dient. Die Weite des Raums und die nicht gerade optimale Akustik zwingen die Sänger, Mikroports zu nutzen, die allerdings so fein justiert sind, dass es nicht stört.
Ich muss gestehen, dass ich den zu ‚Tempeln der Kunst‘ umfunktionierten Industriehallen nichts abgewinnen kann, zumal von Bochum aus ein halbes Dutzend gut ausgestatteter Opernhäuser leicht erreichbar sind. Wie dem auch sei. In Bochum haben Theatermacher Warlikowski und sein Team gezeigt, dass auch in einer Industriehalle großes, faszinierendes Theater sich ereignen kann und dass auch ein so kammerspielartiges Stück wie Pelléas et Mélisande in diesen weiten Räumen seinen Zauber nicht verliert.
Wir sahen die Aufführung am 3. September 2017, die Dernière.
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