Wer ist eigentlich dieser Ariodante? Aus welcher Zeit ist er gefallen? – dieser scheinbar so konventionelle Primo Uomo in einer scheinbar so konventionellen opera seria vom Jahre 1734. Ein fahrender Ritter auf der Suche nach der ihm bestimmten Aventüre? Ein Außenseiter an einem Königshof, dem die Prinzessin zufällt. Ein Naiver, ein Leichgläubiger, ein Verliebter, ein Opfer einer hinterhältigen Kabale?
All diese gängigen Deutungen der Figur sind für Loy nur oberflächliche, untergeordnete Zugänge. In einer hoch anspruchsvollen und subtilen Inszenierung schlägt er eine ganze andere, eine
originelle Deutung vor. Für Loy ist Ariodante die Variante einer Virginia Woolf Figur: ein Orlando auf der Suche nach seiner sexuellen Bestimmtheit. Und diese seine Bestimmtheit wird Orlano/Ariodante erst im Leiden bewußt. Der ihm vorgegaukelte Treubruch der Geliebten, der Verlust des ‚Objekts der Begierde‘ ist – so sieht es die Regie – der Augenblick der Erkenntnis, der Auslöser der Identitätsfindung. Ariodante streift sich das Kleid der Geliebten über, entschwindet in den scheinbaren Selbstmord. Und als er wieder ‚auftaucht‘, da trägt er das Haar schulterlang, da ist der Bart abgelegt – Ariodante ist zur Frau geworden – zur Amazone mit dem Schwert in der Hand.
Und Ginevra? Ihr geschieht Ähnliches. Auch sie findet im Leiden zu ihrer eigentlichen Bestimmtheit. Im Finale hat sie das lange Haar zum Knoten gebunden, trägt Schaftstiefel und einen Militärmantel. Ginevra ist ein Mann. Oder haben vielleicht beide, Ariodante wie Ginevra, als androgyne Wesen ihre sexuelle Bestimmtheit gefunden? Ziehen sie sich deswegen aus der Gesellschaft zurück? Die Regie läßt die Frage offen.
Offen bleibt auch die Frage nach der erzählten Zeit. Zum Gender-Switching kommt das Switchen zwischen den Epochen. Mittelalter, Händel Zeit und heutige Zeit und deren Besonderheiten wechseln in Szene, Kostüm und Maske. Riten des Mittelalters wie das unbedingte Keuschheitsgebot oder der Zweikampf in Ritterrüstung, arkadische Schäferspiele aus der Barockzeit, Intrigen eines machtlüsternen Politikers im lässigen Outfit von heute, Tugendterror und brutale Alpträume. All dies wechselt , überlagert sich und wird spektakulär in Szene gesetzt.
Und natürlich singt und spielt die Diva und Salzburger Prinzipalin, die selber die Titelrolle übernommen hat, die Primadonna mit der „geläufigen Gurgel“, die zugleich eine große Komödiantin ist, so exzellent, so bravourös und beim berühmten Lamento „Scherza infida“ auch noch so gefühlvoll, dass bei diesem Salzburger Ariodante nichts schief gehen kann. Und wenn dann noch dazu auch alle anderen Rollen exquisit besetzt sind und wenn neben der Bartoli als Ariodante auch Kathryn Lewek als Ginevra brilliert und mit ihrer ( ich erlaube mir ausnahmsweise eine Anleihe bei der Feuilletonlyrik) mit ihrer so glockenklaren Stimme und ihrem so anrührenden Spiel verzaubert, ja dann ereignet sich wirklich in Salzburg Musiktheater der absoluten Spitzenklasse.
Ob bei den diesjährigen Pfingstfestspielen alle Veranstaltungen dieses hohe Niveau erreichten? Ich habe da gewisse Zweifel. Dass Max Emanuel Cencic bei seinem Arienkonzert (einem, wie nicht anders zu erwarten war: einem brillanten Arienkonzert) als eine Mischung aus Kreuzfahrt Entertainer und Volkshochschuldozent auftrat, das fand ich schon recht abwegig. In einem Konzert möchte ich nicht belehrt werden. Die Belehrungen findet der Interessierte im Programmheft.
Und die konzertante Aufführung von La Donna del Lago? Vor ein paar Jahren habe ich diese nicht sehr oft gespielte Rossini Oper in Genf in einer Loy Inszenierung mit Joyce De Donato in der Titelrolle erlebt und war begeistert, um nicht zu sagen: hingerissen. Entsprechend hoch waren die Erwartungen jetzt in Salzburg – und sie wurden nicht ganz erfüllt. Natürlich sind alle Rollen herausragend besetzt. Natürlich feiert das Publikum die Bartoli, die auch hier die Titelpartie singt, nach dem so bravourösen Felicità Finale zu Recht mehr als stürmisch. Seltsam nur, dass die unkritischen Enthusiasten im Saal und im Feuilleton gar nicht hören wollten, dass das Hausorchester der Bartoli, die von ihr gegründeten Les Musiciens du Prince – Monaco nicht unbedingt den Rossini Schmelz im Programm hatten. Seltsam auch, dass die „Königin des Belcanto“ die berühmte Auftrittskavatine „Oh mattutini albori!“ so enttäuschen zurückhaltend sang. „Allein,was tut’s“. Wir haben gleich in zwei Opern die Primadonna assoluta gehört und gesehen.