Struwwelpeter Faust im Sumpf der deutschen Geschichte. Terry Gilliam inszeniert La Damnation de Faust an der Staatsoper im Schiller Theater

In Berlin ist nicht Fausts Verdammnis zu sehen. Was in Berlin grandios und spektakulär in Szene gesetzt wird, das ist La Dammnation de l’Allemagne. Wie vor ein paar Jahren Stefan Herheim Eugen Onegin in Amsterdam vor der Folie der russischen Geschichte inszenierte, so bettet jetzt Terry Gilliam den ach so deutschen Faust-Mythos in die deutsche Geschichte ein, genauer: stellt ihn ein in die Übel und Verbrechen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und macht noch dazu die deutsche Kultfigur, den Doktor Faustus, zu einer lächerlich grotesken Figur, zu einem Popanz, zu einer Comicfigur, einer Mischung aus Struwwelpeter und Max und Moritz. 

Nicht genug damit. Das Geschick, das dem Max und Moritz Faust widerfährt, ist  – und damit auch die deutsche Geschichte – eine Inszenierung des Teufels, ein Theaterstück, das Méphistophélés als allmächtiger Theatermacher, Hauptdarsteller und Regisseur in einer Person in Szene setzt. Zu diesem Zweck holt er Akteure und Chargen der Geschichte gleichsam aus dem Inferno wieder hervor und lässt sie noch einmal ihre Rollen spielen. Und so entsteht ein spektakulärer, oft grausamer und zynischer, ein mitunter grotesker und auch komischer Bilderbogen, ein Panoptikum deutscher Geschichte, eine, wenn man so will, Deutschland-Revue mit dem Soundtrack von Berlioz. Und Struwwelpeter Faust als Karikatur des deutschen Intellektuellen ist mittendrin – als Mitläufer.

Es beginnt scheinbar harmlos  – Faust zieht mit der Botanisiertrommel  als Naturforscher durch eine  ‚erhabene‘ Caspar David Friedrich Landschaft – und es endet in der deutschen Katastrophe : in Anselm Kiefers „Verbrannter Erde“. Und dazwischen geht es Schlag auf Schlag. Da reiten die Husaren auf Holzpferden in die Schlacht, da teilen unter Bismarcks Leitung die europäischen Potentaten (allesamt Kasperlefiguren) den großen Kuchen, sprich: die Welt unter sich auf, da sind wir mit Referenzen auf die grausam-hässlichen  Kriegsbilder eines Otto Dix im Gaskrieg des ersten Weltkriegs, da sehen wir die grotesken Gestalten eines George Grosz, wie sie sich als Braun- und Rothemden in Saalschlachten messen und ihren Antisemitismus gewaltsam austoben, da werden wir mit dem Wagner Kult der Nazis konfrontiert, sehen, wie hohe SS Offiziere in Begleitung  blonder Maiden sich an völkischen  Wagner Inszenierungen erbauen, wie der Führer huldvoll vom Caspar David Friedrich Felsen herabschaut, wie Struwwelpeter Faust als Lohengrin mit Elsa zu schlafen glaubt. Da wird die Verfolgung und Ermordung der deutschen Juden plakativ in Szene gesetzt: Marguerite setzt sich die blonde Perücke  auf und zieht das Trachtenkleid über und kann doch als Jüdin der Deportation nicht entgehen. Méphistophélés mimt den feisten Obersturmbannführer und verschafft in dieser  Montur Struwwelpeter Faust Zugang zu dem mit dem Judenstern gekennzeichneten Haus der Marguerite. Usw., usw. 

Ein in schneller Folge aufgeschlagener Bilderbogen, der geradezu erschlägt und doch zugleich fasziniert und erschreckt. Großes Theater zweifellos. Großes Theater, das indes die Berlioz Musik geradezu zur Nebensache macht und  dies trotz der berühmten und exzellenten Sänger und des nicht minder berühmten Orchesters und seines Dirigenten ( die Staatskapelle mit Simon Rattle am Pult, Charles Castronovo als Faust, Florian Boesch als Méphisophélés und Magdalena Kozena als Marguerite). Besser geht es kaum. Und doch:

Prima la messa in scena, dopo la musica.

Wir sahen die Aufführung am 1. Juni 2017, die zweite Vorstellung nach der Premiere am 27. Mai 2017.