Ein Triumpf für Isolde in einer hybriden Inszenierung. Tristan und Isolde an der Oper Graz

Es mag ja  sein, dass der Zauber sich nicht gleich einstellt. Es mag auch sein, dass die Tristan-Klänge zu Beginn ein wenig matt herüber kommen. Ich maße mir da kein Urteil an. Doch wenn Isolde (in der Person der Gun Brit Barkmin) zu singen beginnt, dann begreift man sofort, dass in Graz eine Tristan Aufführung der Spitzenklasse geboten wird. Wir haben lange nicht mehr eine so überragende Isolde gehört, eine Sängerin, der jeglicher ‚Schreigesang‘, in den sich so manche Isolde flüchtet, gänzlich fern liegt, eine Sängerin, die souverän über alle Register verfügt, die hochdramatisch und lyrisch zu singen weiß, die noch den berühmten Liebestod ohne eine Spur von Ermüdung ergreifend zu gestalten versteht: „ertrinken – versinken“ im Wagner Rausch. Wagner, findet er nur die seiner Musik angemessenen Interpreten, „hypnotisiert“ noch immer mit seiner Musik – um es frei nach Nietzsche zu sagen. In Graz findet Wagner die ihm angemessenen Interpreten. Auch Tristan (in der Person des Zoltán Nyás) weiß  mitzuhalten, wenngleich an diesem Abend Isolde der erste Preis gebührt und sich die Titelvariante Isolde und Tristan geradezu aufdrängt.

In Orchesterklang und Gesang ein großer Opernabend, ein Abend der Erschöpfung: „Wagner vermehrt die Erschöpfung […]. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um“ (Nietzsche).

Zur Erschöpfung trägt auch die anspruchsvolle Inszenierung bei, die Verena Stoiber verantwortet. Eine Inszenierung, die mit ihrer hybriden Struktur, bei der sich die Bedeutungs- und Deutungsebenen ständig überlagern, das Publikum nicht einlullen will, sondern an dessen Imagination appelliert und produktive Mitarbeit einfordert.

Ist Spielort die Bar eines Kreuzfahrtschiffes, oder sind wir vielleicht im Sanatorium? Ist diese Isolde im Morgenrock vielleicht eine Patientin und Brangäne im Outfit einer Pflegerin ihre Betreuerin? Schläft Tristan an der Bar seinen Rausch aus? Ist Kurwenal, ein  mit Tristan befreundeter Barmann oder ist er sein Pfleger? Versteht sich die Inszenierung als eine Variante des Zauberbergs? Ist diese Tristan und Isolde Geschichte  die Fieberphantasie eines larmoyanten und moribunden Greises, der seine Sehnsüchte und Wünsche noch einmal evoziert und sich seinen Wahnbildern genussvoll hingibt. Der dritte Akt, der Tristan als jammernden Greis im Schaukelstuhl zeigt, der von seinem Pfleger nicht mehr ernst genommen wird, mit seinem Gejammer allein gelassen wird und der nach Luft ringend an Herzversagen dahin scheidet, dieser dritte Akt könnte von Szene und Personenführung her eine solche Deutung nahe legen.

Oder ist die gesamte Inszenierung als Traumdiskurs angelegt? Als ein Traum, in dem alles möglich und wahrscheinlich ist. Der an der Bar schlafende Mann erträumt er sich eine Tristan und Isolde Geschichte? Entsteht in seiner Phantasie ein Märchenwald mit Minnegrotte, die zugleich Ort der Liebe und des Todes ist? Tauchen in seiner Phantasie Urängste auf? Ist dieser König, der da plötzlich aus dem Dunkel auftaucht und den Tristan ersticht, eine Gestalt aus dem Unbewussten, von dem Tristan sich befreien will? Verweist der Traumdiskurs auf Freud und Strindberg und deren Traumdeutungen und die Minnegrotte auf den Tristan- Roman Gottfrieds von Straßburg?

Ist die Patientin (?) Isolde eine ‚Hysterikerin‘, die keine Ruhe gibt, bis sie vor allen Patienten(?), vor allen Gästen (?) ihre ‚traumatische‘ Vorgeschichte ausbreiten kann,  die mit dem Messer auf Tristan losgeht und vom Pfleger Kurwenal nur mühsam gebändigt werden kann? Orientiert sich die Regie vielleicht primär an Nietzsche und kommt von daher auf das Zauberberg- Syndrom? „Wagners Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme“ (Der Fall Wagner).

In der Grazer Tristan-Inszenierung gibt es Fülle, nein: eine Überfülle von Referenzen. Signale, die den Zuschauer verwirren und zugleich seine Imagination provozieren. Er mag versuchen, die Verweise zu entschlüsseln, sie zu deuten oder auch zu missdeuten. Er kann sie auch einfach übergehen oder das Spiel mit den Referenzen, das die Regie vorgibt, einfach als Spiel, als Rätselspiel genießen. Er kann,wenn er genug vom Regiespiel hat, auch einfach die Augen schließen und in Musik „ertrinken – versinken – unbewusst – höchste Lust!“

Wir sahen die Aufführung am 1. Oktober 2016, die dritte Vorstellung. Die Premiere war am 24. September 2016.