Die Komödie vom verliebten Bürgermädchen und ihrem abgetakelten Rocker oder die Hans Sachs Tragödie. Die Meistersinger von Nürnberg in Erfurt

Wagners ‚Komödie für Musik‘ in einem kleinen Haus wie dem Theater Erfurt. Kann das gut gehen? Es geht in der Tat nicht gut – im ersten und zweiten Aufzug. Es wäre ganz danebengegangen – stünden da nicht mit Frank van Hove als Sachs und Bjørn Waag als Beckmesser zwei brillante Sängerschauspieler auf der Bühne, die in Spiel und Gesang faszinieren. Im Orchesterklang hält sich Joana Mallwitz ganz zurück, setzt auf einen eher sanften Wagner, bevorzugt das Piano, gerade so als wolle sie die Sänger nicht stören. Die Ouvertüre, bei der so mancher Maestro es gern  Dröhnen und Schmettern lässt, erkennt man in Erfurt kaum wieder. Hier ist die Ouvertüre Soundtrack für einen Dokumentarfilm über die Zerstörung der  Theater im zweiten Weltkrieg, deren Wiederaufbau und Neueröffnung mit einer festlichen Premiere der Meistersinger im Deutschen Nationaltheater Weimar (oder war es in Dresden?). Ein Film, der das Publikum von der Musik ablenkt und  den die Choristen, die Weimarer (?) Bürger in den 50er Jahren mimen,  in einer Art Gemeindesaal  anschauen müssen, bevor sie unter dem Chordirektor Beckmesser Choral-Singen üben und ein etwas in die Jahre gekommener Rocker  zum Ärger der Choralsänger eine holde Maid anmacht. Der Rocker, das wissen wir im Publikum noch von anderen Inszenierungen, ist der „Walther von Stolzing, ein junger Ritter“  und die schöne Blonde, das ist „Eva, Pogners Tochter“.

Die Filmeinlage, so nehmen wir an, soll die Grundkonzeption der Regie signalisieren. Nur welche? Gibt es überhaupt eine? Die Kunst, „die heil’ge deutsche Kunst“ entsteht wieder neu aus den Ruinen? So banal ganz es doch nicht sein.  Nein, so ist es auch nicht. Die Antwort erhält der Zuschauer, der zuvor durch allerlei Abwege und Umwege geführt wurde, in der allerletzten Szene. Auf diesen Irrwegen gerät er in amüsante, manchmal auch langweilige, manchmal auch rätselhafte Szenen. Die Bühne evoziert den Vorplatz einer Plattenbausiedlung. Die Meistersinger sind ein Club von schrulligen Bodybuildern, die in ihren Geigenkästen statt der Instrumente Sportzeug und Vesperbrote mit sich tragen, die Lehrlinge sind wohl übrig gebliebene Hitlerjungen und BDM Mädchen, Ritter Stolzing ist, wie schon erwähnt, vom Outfit her so eine Art Rocker, Eva, ein energisches, vom Papa unterdrücktes Mädchen, schnappt sich,  wenn sie den so gar nicht alten Witwer Sachs schon  nicht herumkriegen kann, den gar nicht mehr so jungen Rocker, Sachs und Beckmesser sind Brüder im Geiste, Intellektuelle, die gar nicht in ihre Zeit, die Zeit der Nachkriegsrestauration, passen. Der eine, Hans Sachs – und das ist die Antwort, die die Regie uns im Finale ‚bereitet‘, weiß, dass die großen Worte von  der “heil’gen deutschen Kunst“ nur volksverdummendes, leeres Geschwätz sind und  dass sie allenfalls noch für eine Parodie taugen – und bricht darüber zusammen. Der andere, Beckmesser, weiß, dass er mit seiner absurden Poesie und seiner neutönerischen Musik als Poet und Musiker gescheitert ist und flüchtet sich in den Wahnsinn, wird zum Kind, das mit einem roten Luftballon in der Hand herumläuft.

Seltsam. So wenig in Szene und Musik die ersten beiden Aufzüge gelungen sind, so brillant ist der dritte Aufzug. Jetzt im Vorspiel, wenn Beckmesser im Innenhof der Plattenbausiedlung ein imaginäres Orchester dirigiert, wenn Sachs  sich mit seinem Wahnmonolog an ein Kind wendet, an Eva  als Kind(?) und die Grenzen von Traum und ‚Wirklichkeit‘ verschwimmen, dann macht mit einem Mal die zurückhaltende Interpretation der Musik Sinn. Und wer im Publikum  unbedingt auf Dröhnen und Schmettern aus dem Orchestergraben gewartet hat, der kriegt es auf der ‚Festwiese‘ als Wagner Parodie und Parodie eines Volksfestes, für das Theatermacherin Vera Nemirova gleich den Zuschauerraum mit einbezieht. Allgemeine Begeisterung auf der Szene und im Saale. Sachs Rede auf die deutsche Kunst interessiert niemanden. Das „Volk“ verschwindet einfach und knallt die Tür zu. Und das Liebespaar hat sich schon vorher verdrückt. Das Publikum im Saale bekommt von der Sachs- und Beckmesser-Tragödie kaum etwas mit. Von der Komödie zur Tragödie ist es halt nur ein manchmal unmerklicher Schritt.

Verachtet mir die kleinen Häuser nicht. Auch in ihnen wird große Oper gespielt. Wir sahen die Aufführung am 11. Juni 2016. Die Premiere war am 29. Mai  2016. (Eine Koproduktion mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar).