Händel und Grimani und Carsen, der Musiker, der Librettist, der Theatermacher, sie alle kennen ihren Machiavelli und wissen von ihm, dass Macht sich nur mit List und Gewalt erobern und bewahren lässt. Doch anders als der kühle Florentiner begnügen sie sich nicht mit der Beschreibung und Analyse politischer Machtstrukturen. Sie ziehen den Machtwahn ins Lächerliche, vernichten die Figuren in der Satire. Regisseur Robert Carsen geht noch einen Schritt weiter: nicht nur dass er die Satire aktualisiert, er ändert das Finale und kehrt zu Machiavelli zurück. Es gibt bei ihm keinen Komödienschluss, geschweige denn ein lieto fine. Der neue Machthaber greift zur Sicherung seiner Herrschaft als erstes zur Gewalt, lässt den möglichen Rivalen, die Geliebte, die ihn verschmäht und die Person, die ihn mit ihren Intrigen die Macht verschafft hat, umbringen.
Die machiavellistischen Gewalt- und Ränkespiele, die das Libretto in eine ferne Vergangenheit, in das Rom des Kaisers Claudius, verlegt hatte, transferiert die Regie in das faschistische Rom der Dreißigerjahre, macht aus dem Kaiser Claudius den Duce Mussolini , einen leicht vertrottelten älteren Herrn, den statt der Machtspiele nur die Sexspiele mit seinen Girls und die theatralische Selbstinszenierung für die Kameras interessieren. Ein Duce, der die Machtspiele seiner Gattin Agrippina, der die Ränke, Intrigen und Komplotte, mit denen diese ihren Sohn Nerone als Nachfolger des Duce aufbauen will, nicht im Geringsten durchschaut bzw. der diese gar nicht durchschauen will. Ihn interessieren nur seine Gespielinnen. Und die Folgen sind fatal.
Agrippina – und damit weitet sich implizit der Bereich des Faschismus – erinnert von Maske und Kostüm her an Evita Perón. Doch mit den Verweisen auf den italienischen und argentinischen Faschismus lässt es die Regie nicht genug sein. Sie zielt, wenn auch nicht so plakativ wie bei den Faschismus Referenzen, auch auf eine uns näher stehende Aktualität. Claudius, wenn er nicht gerade mit Stiefeln, Militärlook und Mütze als Mussolini auftritt, sondern zivil daher kommt, im blauen Anzug des Staatsmannes und dem aufgeklebten Haarteil, ist geradezu eine Berlusconi Karikatur. Und Agrippina, wie sie da im eleganten Kostüm und mit blondem Schopf hinter dem gläsernen Schreibtisch thront, wie sie sich von servilen Mitarbeitern die Akten zur Unterschrift vorlegen lässt, wie sie über installierte Kameras die sexuellen Aktivitäten des scheinbar so mächtigen Gatten überwacht, all dies könnte auch eine Satire auf eine bekannte amerikanische Politikerin sein. Und Nerone ist der Fils de Papa, nein der Fils de Maman, der lieber auf großen Bildschirmen Fußball guckt, der für die Fernsehkameras gestellte, manipulierte soziale Wohltaten verteilt und der nach und nach Spaß an der Macht gewinnt – mit fatalen, nein letalen Folgen für alle, die ihm im Wege stehen..
Die Verweise auf die Welt von heute sind indes nur Nebenmotive. Dominant in Carsens Agrippina ist die Faschismus Komponente. Schon das Einheitsbühnenbild, das die Monumentalarchitektur der Mussolini-Zeit zitiert, weist in diese Richtung. Und dann gibt es natürlich die Auftritte der Schwarzhemden, den exzessiven Körperkult der schmucken Jungmänner, die am Schwimmbad posieren, den theatralischen Auftritt des Duce mit der Rede an sein Volk usw.
Die Faschismus Satire, die die Regie so brillant in Szene zu setzen weiß, ist über weite Strecken höchst amüsant und weist überdies noch in weitere Richtungen. Sieht man einmal von den eher beängstigenden politischen Implikationen ab, dann lässt sich diese Carsen-Agrippina auch als Militärklamotte oder als Operette mit sich streitendem und sich wieder versöhnendem Liebespaar verstehen oder auch als Satire auf Lustgreise und Körperkult und Popsänger und deren Groupies: als szenisches Accompagnato zur Arie des Sekretärs der Agrippina ergehen sich die Jungmänner in Liegestützen, und zur Arie der Agrippina selber betätigen sie sich als eher unwillige Masseure und Tänzer und wenn Nerone am Schwimmbad zur Gitarre singt, dann kann er sich nur mühsam der Bikini-Schönen erwehren.
Die Inszenierung, so sehr sie auch mit ihrer überzeugenden Grundkonzeption und ihrer Bilderfülle fasziniert, erschlägt in keinem Augenblick die Musik. Thomas Hengelbrock und sein Balthasar Neumann Ensemble spielen einen schwungvollen Händel, auf der Bühne singt und agiert ein exzellentes Ensemble, und wer sich im Publikum noch an Rinaldo erinnert, der wird so manches Stück, das der junge Händel in Venedig für Agrippina komponierte, aus seinem Londoner Rinaldo wiedererkennen.
Ein in Gesang und Szene und Orchesterklang großer Opernabend im Theater an der Wien. Wir sahen die Aufführung am 31. März 2016. Die Premiere war am 18. März 2016.