Dass man eine Rarität, ein Stück, das zum Karneval in Venedig im Jahre 1720 uraufgeführt wurde, szenisch und musikalisch zu einem Opernereignis machen kann, dies hat die Zürcher Oper gerade mit ihrer neuesten Vivaldi-Produktion vorgeführt. Im Graben die seit Jahren auf Barockmusik spezialisierten Musiker der Orchestra La Scintilla. Am Pult mit Ottavio Dantone ein breit ausgewiesener Interpret der ‚Alten Musik‘. Auf der Bühne ein internationales Ensemble herausragender Sängerinnen und Sänger, die auch als Schauspieler zu brillieren wissen – und als solche von der Regie entsprechend gefordert werden. Von einer Regie, die das Grundthema vom fatalen Hang zur Wahrheit, das sich mit zwei Dreiecksgeschichten und einem Spiel um Macht und Reichtum verknüpft, unterhaltsam und zugleich spannend wie einen Thriller in Szene setzt.
Jan Philipp Gloger hat die verzwickte Handlung, die Vivaldis Librettist noch in einen fernen, märchenhaften Orient verlegt hatte, radikal aktualisiert und in eine italienische Unternehmerfamilie von heute verlegt. Der Patriarch der Familie – so erfährt zur Ouvertüre das Publikum über einen Fließtext – hat vor 25 Jahren mit der Ehefrau und der Maitresse einen Sohn gezeugt und um die Maitresse zu versöhnen, hat er die beiden Säuglinge vertauscht. So wächst denn der Sohn der Maitresse als Fils de Papa in der Familie und der Sohn der Ehefrau als geduldeter Halbbruder und Sohn der Maitresse auf, die als Bedienstete und Mädchen für alles mit in der Villa wohnt. Die Bühnenhandlung setzt ein, als der Patriarch reinen Tisch machen will, den legitimen Sohn anerkennen und diesem Firma und Erbe vermachen will und dies gerade am Abend vor der Hochzeit des scheinbar ehelichen Sohns und scheinbar legitimen Erben mit der schönen, ehrgeizigen und scheinbar skrupellosen Rosane. Der scheinbar so edle Hang zur Wahrheit und die Bekenntniswut des Patriarchen führen die gesamte Sippschaft nebst Maitresse in die Katastrophe.
Doch noch sind wir nicht im dritten Akt. Zur Opera seria gehören die Liebesgeschichten, wenn eben möglich gleich zwei, wenn möglich als Dreiecksgeschichten. Ein Schema, das auch in unserem Fall bedient wird. Der Patriarch hält sich Ehefrau und Maitresse. Rosane ist die Exgeliebte des ehelichen Sohns Zelim, die diesen zu Gunsten der scheinbar besseren Partie mit dem scheinbar legitimen Nachfolger des Unternehmers verlassen hat, eine Abfuhr, die Zelim keineswegs hinnehmen will. Und auch die Maitresse will keineswegs hinnehmen, dass ihr Sohn, der es im Hause des Unternehmers schon so weit gebracht wird, einfach dem Wahrheitstrieb des Alten geopfert wird.
Eine Konstellation und ein Intrigenpotential, das dem Komponisten Gelegenheiten in Fülle bietet, alle nur möglichen Typen von Arien durchsingen zu lassen, und Rosane, die Primadonna in der Person der Julie Fuchs, und den unglücklichen Zelim, den Primo Uomo in der Person der Anna Goryachova, als Gesangstars brillieren zu lassen. Und dies tun sie zur Begeisterung des Publikums.
Eine Konstellation und ein Intrigenpotential, das auch der Regie Gelegenheit bietet, ihre Imagination und ihre Kunstfertigkeiten in Szene zu setzen. Die Grundkonzeption: die scheinbar heile großbürgerliche Familie mit der Leiche im Keller verführt geradezu zur Komödie und zur Parodie. Eine Möglichkeit, die die Regie voll ausreizt. Da haben wir den zwar von Gewissensbissen bedrängten aber nichts desto trotz potenten Patriarchen, der von der attraktiven Maitresse genug hat, dem die dem Yoga Wahn verfallene ältliche Signora auf die Nerven geht und der, wenn es sich gerade ergibt, auch die künftige Schwiegertochter nicht verschmäht. Da gibt es den legitimen Sohn, der sich ausgestoßen fühlt und der in die Gothic Scene abgedriftet ist und auf melancholisch macht. Da gibt es weiter den illegitimen Sohn, einen smarten, sexgeilen Macho, der sich schon als reicher und mächtiger Unternehmer fühlt. Und nicht zuletzt agieren und intrigieren Rosane und Damira, die Maitresse, beide stets auf ihren Vorteil bedacht. Ein Komödienstadel auf vermintem Gelände mit programmierter Explosion.
So unterhaltsam diese Parodie der italienischen Familie oder, wenn man so will, diese Filmkomödie aus Cinecittà auch ist. Sie ist der Regie nicht genug. Im dritten Akt optiert sie für den Actionfilm, den Thriller, und lässt die Bombe hochgehen – und parodiert zugleich durch Übertreibung und Komik den Thriller. Melindo, der abgehalfterte illegitime Sohn, läuft mit dem Revolver in der Hand Amok und will sie alle umlegen: den Papa, die falsche Mama, die richtige Mama, den ‚feindlichen‘ Bruder, die Braut, die angeblich dem neuen Erben schon schöne Augen macht und sich selbst. So fesselt er denn den Papa, der sich zuvor schon in seinem geliebten Porsche mit Abgasen vergiften wollte, an den Schreibtischsessel, hält dem Brüderchen und der vermeintliche untreuen Braut ständig den Revolver an die Stirn. Als die Arme den gänzlich durchgedrehten mit Zärtlichkeit beruhigen will, da geht der Revolver los, und zum großen Gejammer der Braut scheidet der Bräutigam dahin. Und das Bräutchen, in dem plötzlich die Liebe zu dem eben Verschiedenen erwacht, spielt Romeo und Julia und bringt sich um. Der Papa stirbt vor lauter Aufregung am Herzinfarkt. „Tot denn alles“. Nein, nicht doch. Die Signora verfällt endgültig dem Yoga Wahn, und die Maitresse findet aus einem Weinkrampf nicht mehr heraus. Zelim hat von all dem genug, singt uns noch eine Arie aus einer anderen Vivaldi Oper und verschwindet. Lieto fine gestrichen. „Das Finale – so Maestro Dantone im Programmheft – ist […] der unwichtigste Moment in einer Barockoper. Ich habe kein Problem damit, das lieto fine zu streichen“. Wir im Publikum – so signalisierte es der begeisterte Beifall – auch nicht.
Ein in Szene und Musik höchst gelungener Opernabend. Musiktheater vom Allerfeinsten. Und – welch Wunder des Theaters. Die Galerie der Typen, die man gerade auf der Bühne gesehen hat, sie glaubt man im Foyer und vor dem Theater wieder zu erkennen: den wohlhabenden älteren Herrn, die trotz allen Reichtums so resignierte ältliche Signora, die elegante ehrgeizige Schöne, die Mätresse, den arroganten Stutzer, einzig die Goths fehlen. Sie trifft man dann in der Tram. Alles ist doch nur Theater. Schein und ‚Wirklichkeit‘ gehen ineinander über.
Wir sahen die Aufführung am 13. Juni 2015. Die Premiere war am 25. Mai 2015.