Was soll eigentlich dieser obsolete Türkei-Exotismus mit Renegaten, Haremsdamen, Eunuchen, Palästen am Strand, Lustreisen auf dem Meer. Was sollen diese gewaltsamen Aktualisierungen, diese Verlegungen des Geschehens nach Neukölln oder ins Hartz IV Milieu oder diese postfreudianischen Psychodramen. Überlegungen, die wohl Michael Thalheimer angestellt hat, als er vor nunmehr fast sechs Jahren Die Entführung aus dem Serail in Berlin inszenierte.
All den konventionellen Plunder lässt die Regie beiseite und entscheidet sich für einen konsequenten Minimalismus. Einziges Requisit sind ein paar Stühle. Gespielt wird in einem ganz in Schwarz gehaltenen Bühnenraum auf zwei Ebenen, auf den seitlichen Passerelles und direkt im Publikum. Belmonte singt seine Auftrittsarie aus der dritten Parkettarie: ein blonder junger Mann im hellen Sommeranzug unterhält sich vor Beginn der Aufführung ganz entspannt mit seiner Sitznachbarin (die einzige ringsum, die ihn als Theaterfigur und als Person erkennt), steht nach der Ouvertüre auf und singt die erste Belmonte Arie. Leuchtende Augen bei den Kindern in der Reihe vor mir, Erstaunen, Überraschung bei den zahlreich vertretenen Schulklassen, die wohl zum ersten Mal in ihrem Leben in der Oper sind und gleich mit einem Regie Gag das Faszinosum des Theaters erleben.
Das Spiel mit Illusionen und Desillusionen ist offensichtlich die Grundkonzeption der Inszenierung. Bassa Selim ist ein schwarz gekleideter älterer Herr, Konstanze eine nicht mehr ganz junge Dame im langen Kleid, die sich zur Marter-Arie steif und scheinbar erschöpft auf einen Stuhl setzt, Blonde ist in Kostüm und Maske eine emanzipierte junge Dame mit orientalischem Migrationshintergrund, die den armen Osmin, einen simplen Unterschichtenmacho ohne Migrationshintergrund, das Fürchten lehrt, Pedrillo ist von seinem Outfit her wohl eine Karnevalsfigur.
Es mag ja sein – auch dies gehört zum Spiel mit den Illusionen – dass bei ihrer Konzeption der Figuren die Regie auf die Commedia dell’arte verweisen wollte: das hohe Paar: die Amorosi, das niedere Paar, das die Fäden zieht: Arlecchino und Colombina, der verliebte und doch chancenlose Dottore. Doch ein solch literarturgeschichtlicher Verweis, wenn er denn beabsichtigt sein sollte, ist gar nicht so wichtig. Kunstfiguren – so wohl das Signal an die mehrheitlich jungen Theaterbesucher – sind sie alle, die da auf der Bühne singen und spielen. Alles ist nur ein Spiel: ein Spiel mit der Liebe, ein gequältes Spiel mit der Treue, ein Spiel mit Todesschrecken und Generosität. Ein Spiel, das nichts mit der Wirklichkeit da draußen zu tun hat. Und schön, so mögen vielleicht nicht nur die Alten im Publikum denken, ist die Musik alle Male.
Wir sahen die Aufführung am 30. April 2015, die 33. Vorstellung. Die Premiere war am 7. Juni 2009.