Jetzt habe ich doch schon so viele Male Don Giovanni gehört und gesehen. Doch wohl zum ersten Male hat mich die Szene so fasziniert, dass Mozarts Musik mir fast zum Soundtrack für ein grandioses Spektakel geworden ist. Und dabei wurde doch so brillant gesungen und musiziert – eben wie es dem Niveau eines renommierten Hauses entspricht. Noch dazu durfte man die berühmte Spezialistin für zeitgenössische Musik, Barbara Hannigan, in einer klassischen Partie hören, in der Rolle der Donna Anna. Und doch hat die Inszenierung die Musik geradezu erschlagen. Prima la messa in scena, poi la musica? So schien es mir.
Die Szene ist offen und bleibt offen. Eine Einheitsszene. Die Penthouse-Wohnung des Popstars. Teure Sitzgarnituren, ein Glasschreibtisch, ein Computer. Nichts geschieht. Zur Ouvertüre eine Filmaufnahme, ein verwackeltes Video: ein Kapuzenträger mit Dreitagebart bandelt in der U-Bahn mit einer kleinen Blondine an, gibt ihr seine Adresse. Don Giovanni fährt mit der Metro und lernt dort Zerlina kennen, und Zerlina wird ihn in seinem Attico besuchen.
Noch immer geschieht nichts auf der Szene. Dafür tut sich etwas in den beiden Proszeniumslogen. Don Giovanni geht mit Donna Anna in die Oper. Der Commendatore und seine Maitresse haben den gleichen Einfall. Beide Paare sitzen sich in den Proszeniumslogen gegenüber. Was Giovanni mit der Anna in seiner Loge treibt – die ungünstig sitzenden Zuschauer mit Voyeur Ambitionen können es über ein verwackeltes Video verfolgen – missfällt dem Komtur. Und was dann geschieht und was in Giovannis Loge gesungen wird, das wissen wir noch aus anderen Don Giovanni Inszenierungen – mit zwei Varianten: Anna ist und bleibt verrückt nach Giovanni (damit hat sich das Problem der Beziehung zwischen den beiden, das so viele Interpreten beunruhigt hat, für die Regie erledigt). Der Alte wird mit der Pistole erschossen. Einer Pistole, die Anna wohl dabei hatte und mit der sie auch später herumspielen wird – mit letalen Folgen für einen der Herren. Doch greifen wir nicht vor.
Erst die vierte Szene nutzt die Bühne. Präsentiert einen völlig ausgepowerten Giovanni, der sich kaum auf den Beinen halten kann, von seinem Personal angezogen und an den Tropf gehängt werden muss. Don Giovanni ein Drogenabhängiger, und sein Alter Ego Leporello, mit dem er zur Verwirrung der Zuschauer im Finale des ersten Akts die Identitäten tauscht und seinen Gästen wohl einen Auszug aus einer seiner Shows bietet, nicht minder. Die Groupies Elvira und mehr noch Anna sind ebenfalls Abhängige. Bei dieser Konstellation überrascht es nicht, dass Don Ottavio nicht der unerhörte Liebhaber, sondern eher der Therapeut der Anna ist und dass er im Finale beim scheinbaren lieto fine nicht mitsingen darf bzw. kann. Anna versetzt ihm einen Schuss – nicht mit Rauschgift und Spritze, sondern mit Blei und Pistole.
Trash, Videos, Theater auf dem Theater, Degradierung des Mythos, Aktualisierung des Mythos und Transferierung in die Subkultur, Drogensucht, ein ‚Held‘ auf der Suche nach dem höchsten Kick, dem Tod, ein Giovanni, der nicht den Frauen nachsteigt, sondern diese ihm, ein Giovanni in homoerotischer Beziehung zu Leporello, Gender switching und Voodoo Priesterin, ein Giovanni, den nicht eine von außen kommende Macht, welcher Art sie auch sei, vernichtet, sondern der sich selbst tötet. Das berühmte Rondo der Donna Anna im zweiten Akt nichts anderes als ein Orgasmus der Dame. Man glaubt, all dies irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Allerdings wohl noch nie in dieser Kontamination und Konzentration, wie sie Warlikowski arrangiert und wohl auch noch nicht mit dieser Spielleidenschaft, mit der alle Solisten sich geradezu bis zur Selbstaufgabe in ihre Rollen stürzen und diese lebendig und glaubhaft machen. Eine Don Giovanni Variante, die, mag sie auch manch verknöcherten Mozartanhänger verdrießen, fasziniert und begeistert.
Ein großer Opernabend in Brüssel. Wir sahen die Aufführung am 18. Dezember 2014. Dass der Stagione Betrieb nur Aufführungen im Dezember 2014 ermöglicht, kann man nur bedauern. Diesen Warlikowski Don Giovanni hätten wir gerne noch einmal gesehen.