Manieriert und anspruchsvoll. Ein höchst gelungener Tristan an der Oper Stuttgart

Warum nach Bayreuth pilgern und dort sieben Jahre vor verschlossenen Türen harren, wenn in Stuttgart  Sylvian  Cambreling  und Jossi Wieler einen Tristan der Spitzenklasse zelebrieren, wenn brillante, herausragende Sänger wie Erin Caves als Tristan und Christiane Iven als Isolde auf der Bühne stehen, Sänger, denen der berüchtigte Wagner Schreigesang gänzlich fern liegt, die niemals schrill klingen, die, um es pathetisch zu sagen, mit der Macht des Gesangs ihr Publikum verzaubern. Ja, und wenn dann noch wie jetzt  in Stuttgart das Orchester in Hochform ist, dann stellt sich wieder einmal der ‚Wagnerrausch‘,  ein, die „narkotisierende Wirkung von Wagners Musik“ (Bernd Loebe).

Und die Inszenierung? Das Regieteam um Jossi Wieler fordert sein Publikum von Anfang an. Vielleicht muss man kunsthistorisch und zugleich literaturgeschichtlich beschlagen sein, um die Vielzahl der Verweise, die noch dazu häufig parodiert und ironisiert werden, zu erkennen. Das fängt schon beim Bühnenprospekt an. Es gibt keinen Vorhang. Zu sehen ist ein ringförmiger Zellentrakt und in der Mitte ein Wachturm, von dem sich alle Zellen beobachten lassen, ohne dass der Beobachtende  selbst gesehen wird.  Tristan und Isolde, ein kriminelles Paar, für das es keine Privatheit gibt, das unter ständiger Beobachtung lebt, ist dies das  Inszenierungskonzept oder zumindest ein ‚Leitthema‘ der Inszenierung? Muss man den Verweis auf das Panopticon von Jeremy Bentham erfassen und noch dazu die entsprechenden Ausführungen von Michel Foucault kennen, um das Regiekonzept zu verstehen? Nicht unbedingt, zumal die Regie nach der Ouvertüre das Gefängnis im Wortverstande zusammenfallen lässt und mit einem romantischen Bild überrascht: der Fahrt über das Meer. Und wieder ist das Publikum gefordert, wieder wird an seine kunsthistorischen Kenntnisse appelliert. Tristan steht am Steuer des großen Kahns: in Kostüm und Maske eine Caspar David Friedrich Figur. Und Isolde und Brangäne, beide orientalisch kostümiert, haben einen komfortablen Platz am Bug. Welches Bild bzw. welche Bildelemente werden fragmentarisch zitiert? Ist die ganze Meerfahrt-Szene ein romantisches Pastiche? Ironisiert und parodiert die Regie die romantische Seefahrt, wenn Isolde wegen des kräftigen Wellengangs sich an der Reling übergeben muss? Parodiert die Regie konventionelle Inszenierungen, wenn sie der Isolde ein langes Schwert in die Hand drückt und der arme Tristan schon den Kopf über die Reling legt, auf dass die Dame ihm selbigen abschlagen kann? Bekanntermaßen tut sie ja das nicht und reicht ihm dafür mit viel Pathos den Todestrank (vulgo Liebestrank). Ist auch das eine Parodie? Vielleicht ist überhaupt Parodie und Komik die Grundkonzeption der Inszenierung?

Zumindest im zweiten Akt mangelt es nicht an parodistischen Zügen. Da sitzt Isolde zum „Hörner Schall“ am Spinnrad, da spielt sie zum Todesmotiv Tristan schon mal einen Selbstmord vor. Da tobt Tristan seine Männlichkeit an glitzernden Seilen aus, die wie Weihnachtsschmuck vom Bühnenhimmel herab hängen, da werfen als Höhepunkt erotischer Ekstase beide ihre Schuhe von sich. Der obligatorische Freud Verweis? Da zieht sich Isolde im Finale wieder an das Spinnrad zurück und zur Einladung, ihm in das Reich des Todes zu folgen, darf Tristan  die Wollfäden  halten. Isolde eine träumerische Senta und eine Norne zugleich?

Im dritten Akt, da ist das stolze Schiff aus dem ersten Akt geborsten. Ein geborstenes Schiff: die bekannte barocke Chiffre für die Vanitas, für Vergänglichkeit und Tod. Ein stringenter Verweis, den wir leicht nachvollziehen können. Doch warum geht der moribunde Tristan am Stock? Ein humpelnder Kapitän Ahab, der nicht Moby Dick, sondern Isolde sucht? Ist der Hirte ein Wilder aus dem Robinson Crusoe Arsenal? Und der gute König, der im proletarischen Outfit auftritt, auf welche Figur verweist er? Erträumt sich Isolde im finalen Liebestod eine Auferstehung Tristans, die dieser statt zu „ertrinken“, zu „versinken“ mit Trockenschwimmübungen karikiert?

Tristan und Isolde, eine Inszenierung, die mit einer Fülle von Verweisen arbeitet, die den Mythos parodiert und die doch dem Zuschauer die Freiheit lässt, all die Referenzen auf Literatur und Malerei zu ignorieren, die Parodien  zu übergehen, sich der Mär und den Klängen vom ewigen Sehnen zu überlassen oder einfach nur„ein traurig Stück“ zu sehn und zu hören. „Von Tristan und Isolde kenn ich ein traurig Stück“ wird Hans Sachs mahnend zu Eva sagen.

Ein großer Opernabend in Stuttgart. Ein Ensemble, ein Orchester, eine Inszenierung der Spitzenklasse. Wir sahen die Aufführung am 27. Jul 2014. Die Premiere war am 20. Juli 2014.