Die Entführung aus – Neukölln (ehemals Die Entführung aus dem Serail) am Staatstheater Nürnberg

Mozarts „Türkenoper“ aus der orientalischen Exotik eines Serail mit einem spanischen Renegaten als ‚Gutmensch‘ und einem vornehmen spanischen Liebespaar in die heutige türkische Parallelgesellschaft zu transferieren, eine solche Aktualisierung liegt nicht nur nahe, sie garantiert auch, wenn sie denn intelligent und theaterwirksam in Szene gesetzt wird, den Erfolg.  Und das wird sie in Nürnberg, und entsprechend ist der Erfolg.

Dort wird aus dem spanischen Belmonte ein etwas unbedarfter junger Mann aus der deutschen Upperclass, der mit einem Strauß Rosen in der Hand in einem Berliner Türkenkiez seine Konstanze sucht. Bassa Selim, ein zu Reichtum und Macht gelangter ‚Assimilierter‘ im elegantem weißen Leinenanzug, nennt wohl eine ganze Straße mit Altbau-Mietshäusern sein eigen: mit türkischem Club, mit Koranschule und Mineralwasser Depot. Pedrillo hat es bei Herrn Selim zum Hausmeister gebracht und Blonde zur Kellnerin im Club. Konstanze kehrt gerade mit Herrn Selim von einer Einkaufstour durch die Berliner Edelbutiken zurück. Ja, und wir alle im Publikum können uns leicht vorstellen, dass Herr Selim bei dieser ewig die Spröde spielenden, die sich wohl gerade in türkische Eleganz eingekleidet hat, langsam ärgerlich wird. Vornehm, wie er nun einmal ist, lässt Selim seinen Unmut zunächst einmal auf Türkisch aus (dank der Übertitelung können wir das gut verfolgen). Dass er indes seiner Angebeteten jemals „Martern alle Arten“ antun könnte, das ist von vornherein ausgeschlossen. Mögen seine Türsteher in ihren schwarzen Anzügen und dunklen Sonnenbrillen auch noch so grimmig dreinschauen. Selim nimmt der überdrehten Konstanze, die sich gleich selber umbringen will, einfach das Tafelmesser aus der Hand. Und im Finale da entlässt er, wie es nun einmal Libretto und Musik wollen, die vier deutschen Bösewichter friedlich und generös. Nur – eine  kleine Zutat der Regie –Blonde findet das gar nicht gut. Sie rennt zu ihrem Osmin zurück (besser einen sentimentalen türkischen Macho als einen drögen deutschen Hausmeister). Doch der Herr Osmin ist der Berliner Göre überdrüssig.

Ist diese Nürnberger Entführung nun ein Singspiel, ein Lustspiel, eine Komödie mit latenter Tragik, eine Parodie auf Türken und ‚Europäer‘? Sie ist von allem etwas. Die Arien werden nicht inszeniert, sondern ganz bewusst von der Rampe herab gesungen – eben in der Tradition des 18. Jahrhunderts, als Arien Momente der Reflexion waren und die Handlung anhielten. Und da Konstanze in der Person der Leah Gordon über „die geläufige Gurgel“ verfügt und Belmonte in der Person des Martin Platz ihr nicht nachsteht, gelingen diese Bravourstücke, wird einfach schön gesungen. Wie schade nur, dass, so schien es mir, das Orchester an diesem Abend nicht in der gewohnten Hochform war und dass manches so seltsam scheppernd klang.

Ein Lustspiel mit einer allerdings nie verletzenden Parodie ist diese Nürnberger Entführung alle Male, eine Parodie auf türkische Bräuche in Club und Koranschule, auf die fröhlichen Kopftuchträgerinnen und die kraftstrotzenden Machos. Und an der berüchtigten latenten Tragik, die kaum ein Regisseur auslässt, fehlt es natürlich auch in dieser Entführung nicht. Dass das Upperclass Paar, wenn es denn zusammen bleiben wird, allenfalls ein konventionelles Paar abgeben wird und die arme Konstanze ihres Softy bald überdrüssig werden und vom Charme des Herrn Selim träumen wird, auch dies deutet die Regie an: eine eher melancholisch und so gar nicht erwartungsvoll gestimmte Konstanze steht einsam auf dem Balkon und wartet auf ihre ‚Entführung‘.

So haben wir denn im Nürnberger Opernhaus eine zwar etwas betagte (die Premiere war vor sechs Jahren), aber keineswegs abgespielte Inszenierung gesehen. Eine Inszenierung, bei der Andreas Baesler zum Nutzen der Szene seine ‚Message‘ ins Programmheft gesteckt hat und die Probleme der Parallelgesellschaften in Operettenseligkeit aufgelöst hat. Allgemeine Begeisterung im Publikum. Das Haus war voller junger Leute. Mit einer solch gelungenen Aufführung, wie sie von jungen unverbrauchten Darstellern und einer Regie getragen wird, die, ohne den pädagogischen Zeigefinger zu heben, ein altes Stück zu aktualisieren weiß, gewinnt die Nürnberger Oper sicherlich ein neues, ein junges Publikum für sich. Und wenn sie dann noch im Anschluss an die Aufführung eine „Sommer-Lounge“ im Gluck-Saal und auf der Terrasse des Hauses anbietet, wie das seit dieser Spielzeit der Fall ist, dann hat das Musiktheater in Nürnberg wohl eine große Zukunft vor sich.

Wir sahen die Aufführung am 12. Juli 2014. Die Premiere war laut Programmheft am 20. Dezember 2008.