Ist es ein Sakrileg, wenn ich gleich sage, dass ich nicht wegen der Musik, sondern wegen der Inszenierung nach Karlsruhe gefahren bin? Nicht wegen Richard Wagner, sondern wegen Tobias Kratzer. Vor ein paar Jahren hatte uns in Leipzig sein so ganz ungewöhnlicher Admeto begeistert. Und jetzt waren wir neugierig, wie dieser „Opernregisseur des Jahres“ wohl Wagners ‚Komödie für Musik‘ in Szene setzen würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil. Sieht man einmal von Stefan Herheims Traumerzählung ab – in diesem Sinne verstand dieser im vorigen Jahr in Salzburg die Meistersinger, dann ist Kratzers Inszenierung eine der brillantesten, die wir in den letzten Jahren gesehen haben.
Aus ihrer Konzeption macht die Regie von Anfang an kein Geheimnis: der eiserne Vorhang ist zugeklebt mit Aufführungsplakaten der Meistersinger aus den unterschiedlichsten Jahren und an den unterschiedlichsten Häusern. Das Signal an die Zuschauer ist eindeutig: Wir kennen die Tradition, wir zitieren sie, wir ‚schaffen Neues‘. Und so schaffen wir gleich im ersten Akt die Kirche ab und begnügen uns mit dem Übungsraum einer Musikhochschule. Im zweiten Akt da zitieren wir auf der Drehbühne gleich drei Formen der Rezeption: das biedermeierliche Butzenscheibenambiente zu Beginn, zur Fliederszene die Wieland Wagner Scheibe in dessen Inszenierung vom Jahre 1956, und bei der Beckmesser-Szene und zum Finale da sind wir dann bei der Trash Manie von heute angelangt. Im dritten Akt verzichten wir ganz auf den Plunder beim Aufzug der Stände auf der Festwiese. Die Festwiese ersetzt die Regie durch ein Fernsehstudio, in dem Beckmesser und Stolzing um den großen Preis singen, ein Wettstreit, den ein festlich gekleidetes Publikum auf den Seitenbühnen über Großbildschirme verfolgt und kommentiert. Hans Sachs darf seine nostalgische Rede auf die deutsche Kunst vor dem eisernen Vorhang halten, das Karlsruher Aufführungsplakat mit seinem Porträt aufkleben und sich mit den Resten der deutschen Kunst davon machen: mit ein paar Notenbüchern und einer Zierpflanze, die allesamt in einem Pappkarton Platz finden. Und Stolzing und Eva? Stolzing hat es zum Chorleiter an der Musikhochschule gebracht und während er den Choral einstudiert, da hat Eva sich schon den nächsten Liebhaber in den Vorraum bestellt. Ein zirkulärer Schluss oder Die Meistersinger von Nürnberg in der Endlosschleife.
All dies setzt die Regie mit ‚Witz‘ und Brillanz, souverän und gekonnt in Szene. Sie weiß um die Tragik und implizite Komik der Hans Sachs Figur und um die bei aller Aufgeschlossenheit für ‚Neues‘ simple Oberflächlichkeit des Stolzing, kennt das Sirenenhafte der Eva, die kleinbürgerliche Spießigkeit der kleinen Meister. Doch all dies lässt sie eher in der Schwebe, denunziert zu keinem Zeitpunkt die Figuren. Im Gegenteil. Sie aktualisiert sie und deckt dabei ‚Neues‘ an ihnen auf.
Kratzer erzählt die bekannte Geschichte neu oder setzt zumindest die Akzente anders und rückt dabei die Figur der Eva stärker ins Zentrum des Interesses. Das scheinbar so brave und wohl behütete Töchterchen eines Professors an der Musikhochschule – die Meistersinger sind wohl allesamt, ob jung oder alt, kauzige Hochschullehrer, wie man sie zuhauf an den Universitäten des Landes findet – die scheinbar so brave Eva, mag sie auch so artig Choral singen, ist eine Venus aus der Kleinstadt. Zur Ouvertüre turtelt sie mit Professor Sachs an der Kaffeebar, beim Choralsingen flirtet mit einem Jungmann im proletarischen Outfit (bei Wagner ein gewisser Ritter Stolzing), in der Johannisnacht vergnügt sie sich mit ihrem proletarischen Liebhaber in und hinter Müllsäcken und schickt ihn anschließend los, Döner zu holen, zum Abschied von Sachs zieht sie diesen noch einmal schnell auf den Teppich, beim Preissingen kriecht sie durchs Studie und irritiert gezielt den armen Beckmesser, und im Finale da ist Ritter Stolzing wohl schon ein gehörnter Ehemann. Der nächste proletarische Jungmann wartet schon im Vorzimmer.
„Wahn, Wahn! Überall Wahn“. Nicht ganz so, Professor Hans Sachs. Wahn vermischt mit Komik – so signalisiert es die Regie. Und damit trifft sie wohl den Sachverhalt. Die Meistersinger eine „Komödie für Musik“, bei der Altes und Neues durcheinander gewirbelt werden, Traditionen einfach nur Spielmaterial sind, Ingredienzen der Komödie mit ein paar Prisen Tragik gemischt werden und das alles ohne ideologischen Fingerzeig. Eine außergewöhnlich gelungene Inszenierung.
Und die Musik? Keine Frage, dass in Karlsruhe auf hohem Niveau musiziert und gesungen wird und dass, um nur ein Beispiel zu nennen, Renatus Meszar in der Rolle des Hans Sachs als Sänger und Schauspieler überragend ist. Bei den Karlsruher Meistersingern dominiert indes die Szene und fesselt die Aufmerksamkeit des Publikums. Und so nimmt man – so erging es zumindest mir – Wagner letztlich nur noch als Soundtrack wahr. Präsent ist er indes immer: als Gipskopf auf der Bühne.
Wir sahen die Aufführung am 19. Juni 2014. Die Premiere war am 27. April 2014.