Sind die mittleren und kleinen Häuser der wahre ’Hort‘ der Wagner-Pflege? Muss man weit in den Norden, ins ferne Lübeck reisen, um „Leiden und Größe Richard Wagners“ zu erfahren, zu genießen? Ein Gedanke, der einem nicht abwegig dünkt, wenn man in der Oper Lübeck eine grandiose Tristan und Isolde Aufführung erlebt, eine Aufführung, bei der alles stimmt: bei der das Orchester die berüchtigte ‚Klangfarbenpracht‘ ausbreitet, bei der die Musik die berüchtigte ‚Suggestionskraft‘ entfaltet, sich im Publikum die berüchtigte „narkotisierende Wirkung“ der Wagner Musik einstellt, eine Wirkung, der sich kaum ein Zuhörer zu entziehen vermag. Auf der Bühne Wagner-Sänger, denen jeglicher Schreigesang fern liegt, Stimmen, die einen geradezu lyrischen Wagner-Gesang zelebrieren. Ein brillantes Ensemble von Sängerdarstellern, wie man es in dieser Geschlossenheit selten antrifft.
Zur narkotisierenden Wirkung trägt nicht zuletzt auch die Szene bei. Da wird kein „Märchen aus uralten Zeiten“ erzählt, da wird keine zwanghafte Aktualisierung versucht. Da bildet die Entstehungsgeschichte der Oper das Sprungbrett für die Imagination. Da ist Mathilde Wesendonck in Venedig, im Palazzo Vendramin. Da ist Brangäne keine betagte Amme und erst recht keine Intrigantin, da ist sie eine jugendliche Cosima, die um Wagners Muse besorgt ist, die darauf achtet, dass bei aller Passion die Notenblätter Richards nicht verloren gehen, wenn Wagner/Tristan „O sink‘ hernieder, Nacht der Liebe“ zusammen mit Mathilde/Isolde komponiert und gleichzeitig realisiert. Nur konsequent im Sinne dieser Grundkonzeption ist es, wenn im dritten Akt ein moribunder Wagner/Tristan im nunmehr verfallenen Palazzo inmitten von ringsum verstreuten Notenblättern erschöpft am Flügel lehnt, „das furchtbare Sehnen“ in Musik transponiert und schließlich auf der Chaiselongue vor dem Flügel dahinstirbt, gleichsam wie der todwunde Siegfried noch einmal erwacht und Isolde/Mathilde zu ihrer Schlussszene die Notenblätter hinreicht. Nicht der Tod, die Musik triumphiert. Zahllose Notenblätter fallen vom Bühnenhimmel herab, und eine jugendliche Cosima und eine ältliche Cosima in schwarzer Witwentracht, in die sich Isolde/Mathilde verwandelt hat, studieren die Noten. „Was bleibet aber“, stiftet die Musik.
Kitsch? Vielleicht. Aber rührender, anrührender Kitsch. Ein brillanter Abend des Musiktheaters in der Oper Lübeck. Wir sahen die Aufführung am 29. Dezember 2013. Die Premiere war am 6. Oktober 2013.