Spiel mir die Musik vom Tod. Sterben im Transitraum. Claus Guth setzt Schuberts Oratorien-Fragment Lazarus in Szene

Im Theater an der Wien ist eine Rarität zu hören und eine (zum Teil) herausragende Regiearbeit zu bestaunen. Oratorien als Theaterstücke zu inszenieren – bei deren struktureller Analogie zur Oper liegt das ja auch nahe – ist keine Besonderheit mehr. Bei Händel Oratorien wie z.B. bei Il Trionfo del Tempo e del Disinganno ist die szenische Umsetzung inzwischen gängige Praxis. Selbst der Messias – das hatte vor ein paar Jahren Claus Guth mit großem Erfolg im Theater an der Wien gezeigt – lässt sich in ein großes szenisches Spektakel umformen. Und Schuberts Lazarus? Ein gerademal gut einstündiges Stück, das vom langsamen Sterben eines Mannes und von den Klagen seiner Schwestern und Freunde erzählt. Ich sage bewusst ‚erzählt‘, denn von einer dramatischen Anlage, die zur szenischen Gestaltung einladen würde, ist in diesem Stück kaum etwas zu finden. Ein Problem, an dem andere  Theatermacher wohl scheitern würden, ist für einen so versierten Musiktheater-Regisseur wie Claus Guth  eine Herausforderung, Anregung zur Kreativität.

Guth verlegt das Geschehen nicht, wie man vielleicht erwarten könnte,  auf die Intensivstation einer Klinik, sondern in den Transitraum eines Flughafens. Inmitten der Passagiere und des Personals erfährt der Reisende Lazarus die Vision seines langsamen Sterbens, hört, ohne dass diese ihn bemerken, die Klagen seiner Schwestern und seiner Freunde. Und während diese – und auch er selber – klagen, d.h. ihre Rezitative und Arien singen, halten alle anderen in ihren Bewegungen inne, erstarren zu Tableaux Vivant.  Es gibt keine Handlung mehr. Aus der scheinbaren Oper ist wieder ein Oratorium geworden. Ein Ort der Meditation, der stummen und der gesungenen Reflexion über das Sterben. Der Transitraum wird fern aller platten Symbolik (‚Unser Leben ist eine Reise hin zu Gott‘) zum Oratorium im ganz konkreten Sinn, zum Ort des „Orare“; des Betens; des gemeinsamen Betens. Eine Konzeption, die, nicht zuletzt dank der brillanten Sänger (allen voran Kurt Streit in der Titelrolle und Annette Dasch als seine Schwester Maria) die Aufführung trägt und das Publikum fasziniert. Kein Huster wagte zu stören.

Ja, und dann ist leider Pause, und das Faszinosum ist dahin. Oder simpel gesagt: im zweiten Teil ist die Luft raus. Dann darf auf leerer Bühne ein ‚Handlungsreisender‘ (wohl als Parallelfigur zum Lazarus gedacht) todessüchtig den Verlust seines Glaubens beklagen, zum Zeichen seiner Trauer Aktentasche, Jacke und Krawatte ablegen und sich an den Bühnenrand hocken. Dann dürfen ein salbungsvoller Priester (die Karikatur eines Gottesmannes) und die beiden Schwestern  noch eine  herzzerreißende Kitsch-Szene aus Schmerz und Trauer singen und mimen. Und dann ist mitten im Takt Schluss mit Schuberts Lazarus Musik, und  sanfte sphärische Klänge von Charles Ives setzen ein.  Wie schön und vielleicht auch wie ergreifend wäre ein solches Finale gewesen. Nein, das Produktionsteam macht weiter, macht weiter mit einer Collage aus Schubert- und Ives- Kompositionen, macht weiter – mit unfreiwilliger Komik. Da singen die traurigen Kofferträger, schwer bedrückt von Lasten, a cappella. Da lässt der Putzmann seinen Eimer stehen und gibt ein Tenorsolo. Keine Frage. Es wird wunderschön gesungen und musiziert. Die Personenregie ist exzellent. Schubert und Ives fügen sich zusammen. Aber wie schade, dass der zweite Teil so abfällt. Oder wollte die Regie signalisieren, dass es für die Mühseligen und Beladenen  keine Hoffnung gibt? Dass die Auferstehung und damit die Geschichte des biblischen Lazarus nur ein schaler Traum ist? Doch warum lässt sie dann im Finale das Sanctus aus der Schubert-Messe Es-Dur singen? Gibt es vielleicht doch eine Hoffnung? Ein offener Schluss?  Oder vielleicht doch manche Ungereimtheiten?

Lazarus im Theater an der Wien: ein herausragender erster, ein enttäuschender zweiter Teil. Wir sahen die Aufführung am 13.  Dezember. Die Premiere war am 11. Dezember 2013.