Nein, zu Wagners 200. Geburtstag waren wir nicht in Leipzig, nicht in Dresden und schon gar nicht in Bayreuth. Wir waren in einer mittelgroßen Stadt in Österreich, in Wels, wo man seit mehr als zwanzig Jahren ein ehrgeiziges Wagner Festival im ehemaligen Ballsaal eines großen Hotels organisiert und damit großen Erfolg hat. Kein Wunder, denn die Liste der Mitwirkenden weist eine ganze Reihe illustrer Wagner Interpreten auf. Und auch beim diesjährigen Tannhäuser stehen mit Jon Ketilsson in der Titelrolle, Astrid Weber als Elisabeth und Clemens Unterreiner als Wolfram, um nur die Namen der Protagonisten zu nennen, renommierte und brillante Sänger auf der Bühne des kleinen Hauses. So war denn in Wels (leider mit gewissen Einschränkungen) ein höchst respektabler Tannhäuser zu hören, eine Aufführung auf einem Niveau, wie man es gar nicht erwartet hätte. Ja, wenn nur nicht diese erste schreckliche halbe Stunde gewesen wäre.Da schlugen die Bläser die Violinen geradezu tot. Alles Pagan-Erotische ging im christlichen Gebrause und Getöse unter, eine Tanzgruppe machte peinliche Turnübungen, im Hintergrund rauschten die Video-Wasser, im Vordergrund rekelte sich Venus auf einem Alkoven, und Tannhäuser darf seinen Kopf in ihren Schoß legen. Dass der Arme ob dieser nicht gerade stimulierenden szenischen und musikalischen Situation, nichts wie weg aus dieser Höhle will, ist leicht nachzuvollziehen. Auch mancher im Publikum ersehnte das Ende der biederen Venus Szene herbei. Neben mir hielt sich eine alte Dame verzweifelt die Ohren zu und versuchte im Sitz zu versinken. Nun, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Zumal von der zweiten Szene an alles ganz anders wird. Da gewinnt die Aufführung an Fahrt, da weiß das Orchester zu differenzieren, da wird immer besser und brillanter gesungen. Da ärgert man sich allenfalls über die so museale Inszenierung, die ohne eine Spur von Ironie oder gar – Gott bewahre – von Parodie, die ohne auch nur einen Gedanken an eine mögliche Aktualisierung des Tannhäuser Mythos zu verschwenden, einfach das Libretto so vom Blatt herab in Szene setzt. Einen überzeugenden Einfall hat die Regie indes. Sie erspart uns die Sargszene. Die arme Elisabeth, nachdem sie ihr Mariengebet gesungen hat, macht nur noch ein paar schwankende Schritte und bricht neben dem Bildstock der Mutter Gottes tot zusammen. Wolfram deckt sie mit seinem Mantel zu. Eine Geste, die die praktische Folge hat, dass er für Tannhäuser nur den Mantel wegziehen muss – und schon ist es um den Mann geschehen. Und dann kommt die Schlussszene. Und dieses Finale ist nicht weniger misslungen als der Anfang. Da brüllt der Chor aus Franziskanermönchen das Orchester einfach nieder – zweifellos eine gewaltige physische Leistung.
So haben wir denn zu Wagners Geburtstag in Wels – abgesehen vom Anfang und vom Finale – eine musikalisch höchst ansprechende Aufführung gehört und eine biedere und konventionelle Inszenierung im dieser entsprechenden Dekor gesehen. Dem durchweg recht betagten Publikum hat es gefallen. „Schön war’s und so musikalisch“ hörte ich im Gedränge an der Bar ein Wagner-Urgestein murmeln. Und die alte Dame neben mir, die war im dritten Akt so putzmunter, dass sie zum holden Abendstern den Takt mitschlug. Ob sie wohl geahnt hat, dass der Abendstern wie sein Pendant der Morgenstern auch der Stern der Venus ist?
Und das Aphrodisiakum?
Den Witz, der der Inszenierung mangelt, ihn hat die Intendantin. Zur Pause spendiert sie allen im Publikum anlässlich der Geburtstagsfeier ein Venusbrüstchen aus weicher Schokolade mit roter Marzipanumhüllung und silbernem Punkt oben drauf. Mancher im Publikum nahm voll guter Hoffnung gleich zwei. Und noch einen weiteren witzigen Einfall hatte die Intendantin. Laut Programmheft muss der kleine Richard ein Siebenmonatskind gewesen sein. Er kam schon am 13. Februar zur Welt. Und dafür verschied er auch schon zehn Jahre früher, als wir bisher dachten: am 22. Mai 1873. Und die Uraufführung des Tannhäuser? Nichts da mit Dresden und Paris. Sie fand in Bayreuth statt – so weiß es das Programmheft in Wels. Ein richtig hübsches Verwirrspiel.
Vielleicht fahren wir im nächsten Jahr zum Lohengrin wieder hin. Dieses altbackende Ambiente auf der Bühne und im Saal – eine unfreiwillige Parodie auf Wagner und die Wagnerianer, die Seltenheitswert hat und die man blauäugig und in unschuldiger Naivität genießen sollte. Wie sagte doch so schön Thomas Hengelbrock: „Wir leben in einer Demokratie, da müsste Pluralismus in der Kunst doch eigentlich selbstverständlich sein.“ Und dies gilt, so wollen wir den Maestro verstehen, für Musik und Szene in gleicher Weise (FAZ vom 22. Mai 2013 in der Beilage zu Wagners Geburtstag).
Wir sahen die Aufführung am 22. Mai 2013.