Düsternis und Verbrechen. Gewaltherrschaft und Hoffnungslosigkeit. Calixto Bieito inszeniert Boris Godunow, den „Ur-Boris“, an der Bayerischen Staatsoper

Ich bin nicht unbedingt ein Fan der russischen Musik des 19. Jahrhunderts, und ich muss gestehen, dass ich Mussorgskys  ‚grand opéra‘ – in welcher Fassung auch immer – noch nie gehört, geschweige denn auf der Bühne gesehen hatte. Die Erwartungen waren also groß, und sie wurden – um es gleich vorweg zu sagen – nicht enttäuscht. In Musik und Szene bietet die Bayerische Staatsoper ein grandioses Spektakel, einen Opernabend der Spitzenklasse – wenn man den Inszenierungsstil eines Calixto Bieito mag. Für mich gehört Bieito zu den ganz großen Theatermachern. Sein Fidelio in München, sein Fliegender Holländer in Stuttgart oder sein Freischütz an der Komischen Oper in Berlin waren für mich faszinierende Inszenierungen. Und ein gleiches gilt für seinen Münchner Boris. Sein Boris  Godunow ist kein blutiges Märchen aus ferner Zeit, aus einem fernen Russland, sondern eine höchst aktuelle Parabel von totaler Gewaltherrschaft,  in der die Funktionäre  mit Gewalt und Mord, mit Trug und Schein um die Alleinherrschaft streiten, in der das Volk je nach Bedarf manipuliert und von einer brutalen, allgegenwärtigen Polizeitruppe drangsaliert wird, in der jeder Aufmüpfige, sei er auch nur  ein Invalide oder ein Narr geschlagen und erschlagen wird.  Und wenn die Polizeitruppe nicht zuschlägt, dann werden Kinder zur Gewalttätigkeit aufgestachelt. (Ein kleines Mädchen erschießt unter Anleitung eines hohen Funktionärs den „Gottesnarren“). Der junge Grigorij, der „falsche Dimitrij“, der sich für den angeblich dem Mordanschlag entkommenden Thronerben ausgibt und den Diktator Boris stürzen will, erweist sich als gerissener Revolutionär, der im Wortverstande über Leichen geht und mit eigener Hand die Familie des im Sterben liegenden bisherigen Machthabers erdrosselt und erstickt. Die „Bojaren“ sind nichts anderes als hohe Parteifunktionäre, ihr Rat ist eine Sitzung des Politbüros und obwohl der Diktator krank und elend ist, dem Verfolgungswahn ausgeliefert ist, wagen sie nicht, ihn zu stürzen. Düster und hoffnungslos ist alles. Stirbt auch der Machthaber, mag er auch sein Tun bereuen oder bedauern. Nichts ändert sich mit seinem Tod. Der neue brutale, machtlüsterne  Nachfolger steht schon bereit. Die unendliche Spirale von Macht und Grausamkeit, von Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit dreht sich immer weiter.  Sieben Bilder der Düsternis und des Nihilismus, die sich ohne Pause aneinander reihen, das ist der Münchner  „Ur-Boris“.

Und die Musik? Als simple Opernbesucherin, die den Boris Godunow zum ersten Mal hört, steht mir kein Urteil zu. Kein Zweifel, dass das Bayerische Staatsorchester unter seinem Dirigenten Kent Nagano Mussorgsky  in Vollendung zelebrierte, dass in allen Rollen überaus brillant gesungen wurde, dass Musik und Gesang die hoffungslose politische Parabel, die auf der Szene zu sehen war, erträglich machten. Oder war es vielleicht manchmal so, dass die Dominanz der Szene die Musik zum Soundtrack Lieferanten reduzierte, dass man von der Szene so gefangen war, dass einem die Feinheiten der Musik entgingen? Eine Erfahrung, die ich zuletzt bei Stefan Herheims Lohengrin in der  Berliner Staatsoper Unter den Linden machte. Manchmal stehlen die großen Theatermacher den großen Dirigenten halt die Show. Prima la messa in scena e poi la musica? Der grandiose Münchner Boris  Godunow ist dieser Gefahr wohl nicht immer entgangen.

Wir sahen die Aufführung am 20. Februar 2013. Die Premiere war am 13. Februar 2013.