Wieder einmal erlebt das Theater an der Wien einen rauschenden Erfolg. Wieder einmal feiert ein begeistertes Publikum alle Mitwirkenden. Und dies zu Recht. Beim Wiener Rossini Abend da stimmt einfach alles. Höchst brillante Solisten (allen voran Lawrence Brownlee in der Titelrolle und Pretty Yende als Comtesse Adèle), ein Ensemble und ein Chor, die allesamt in Spiel und Gesang Rossinis ‚Komödie für Musik‘ mit Bravour in Szene zu setzen wissen, ein Orchester und ein Dirigent der Spitzenklasse (das Ensemble Matheus unter der Leitung von Jean-Christophe Spinosi) und nicht zuletzt eine Regie (Moshe Leiser und Patrice Caurier), die die der Musik und nicht minder dem Libretto schon inhärente parodistische Replik auf die tragédie lyrique noch verstärkt, ohne dabei jemals in die Klamotte abzustürzen. Mit anderen Worten: ein Opernabend, wie man ihn in dieser Perfektion nur selten erlebt.
Gespielte Zeit ist nicht, wie es die populäre Erzählung vom notorischen Verführer Ory nahe legen könnte, die Boccaccio oder die Rabelais Zeit oder die Entstehungszeit der Oper, also die französische Restaurationsepoche, wie es der versöhnliche Schluss mit seiner ‚Restauration‘ der alten Eheverhältnisse nahe legen könnte. Spielzeit und Spielort sind die frühen 60er Jahre in einer französischen Kleinstadt, die von Schloss und Kirche dominiert wird. Und ganz wie es dieser Zeit und diesem Ambiente entspricht, sind die Männer des Städtchens nicht, wie es die gängigen Versionen der Comte Ory Erzählung verlangen, ins Heilige Land gezogen, sondern in die Wüsten Nordafrikas, um dort das französische Kolonialreich zu sichern, und entsprechend lädiert und nur scheinbar triumphierend kehren sie im Finale zurück, gerade noch rechtzeitig, um dem Comte Ory den schon sicher geglaubten Sieg im Liebeskrieg gegen die Damen streitig zu machen. Mag dieser auch am Ende frustriert von dannen ziehen – die französische Provinzausgabe von Casanova oder Don Giovanni hat im Liebeskrieg schon so viele Siege davon getragen, dass sie eine Niederlage leicht verschmerzen kann. Diese Siege, diese Eroberungen setzt der erste Akt in Szene, wenn Ory als frommer Eremit mit Rauschebart und dunkler Kutte aus seinem Wohnwagen humpelt, den Frauen des Städtchens alles verspricht, was sie sich wünschen und ihnen diese Wünsche auch ganz konkret in seinem Wohnwagen erfüllt. All dies hat natürlich nichts mit „Sexualität und sexueller Frustration“ in einem Frankreich, „in der Zeit vor der sexuellen Befreiung“ zu tun, wie unser Regieteam gedankenschwer im Programmheft anmerkt – und bei der szenischen Umsetzung zum Glück längst wieder vergessen und ‚verdrängt‘ hat. Der Comte Ory, das ist Erzählmaterial, das sind Handlungen, Motive, Situationen aus dem Tesaurus der Fabliaux des Mittelalters und der Komödien und Novellen in der Boccaccio-Tradition. Und so setzt ihn – mit zusätzlicher ironischer Aktualisierung – die Regie, ohne auch nur ein einziges Mal mit der ideologischen Keule zu drohen, zum Gaudi des Publikums und wohl auch der Mitwirkenden in Szene.
Und antiklerikal ist diese opéra comique auch nicht. Der lüsterne Kleriker, in den sich der Comte Ory verwandelt hat, auch das ist nichts anderes als uralter Novellen- und Komödienstoff – und natürlich wussten das Rossini und sein Librettist Eugène Scribe. Und das damalige Publikum wusste es auch und amüsierte sich. Wie sich auch das heutige Publikum amüsiert und nicht im Geringsten daran denkt, dass die armen Franzosen wohl in der Zeit De Gaulles sexuell frustriert gewesen ein könnten. Die opéra vom Comte Ory ist, so wie sie in Wien in Szene gesetzt wird, ein großer Spaß. Ja, und wenn im zweiten Akt Ory und seine Kumpane sich als Nonnen verkleiden und sich so Zugang zum Schloss der Comtesse verschaffen, den Weinkeller plündern und sich, wenn die Gräfin oder ihre Freundin hereinschaut, von einer betrunkenen Horde blitzschnell in frömmelnde Nönnchen verwandeln oder wenn Ory in der Nacht statt der Comtesse seinen Pagen liebkost und dieser die Comtesse und letztere glaubt, es sei Ory und sie allesamt – gleichsam übereinander liegend – dazu das berühmte Terzett „A la faveur de cette nuit obscure“ singen, dann erreicht die Situationskomik und die Parodie in der Musik den Höhepunkt. Unnötig zu sagen, dass all dies nur gelingt, wenn brillante Sänger zugleich auch herausragende Komödianten sind – eben wie jetzt im Theater an der Wien.
Wir sahen die Aufführung am 18. Februar 2013, die zweite Vorstellung nach der Premiere am 16. Februar 2013.