Grandios musiziert und dirigiert, brillant gesungen – dürftig die Szene und die Regiekonzeption. In dieser Beurteilung des Wiener Radamisto sind sich alle einig, von der FAZ bis zur Kronenzeitung. Bei aller Achtung vor der Kompetenz, der Erfahrung, dem ästhetischen Bewusstsein der renommierten Kritiker – hier bin ich nicht mit ihnen einverstanden. Auch wenn es wohl zum guten Ton gehört, vor der Kunst des so viel gerühmten Musikers und Musikwissenschaftlers René Jacobs sich ehrfürchtig zu verneigen, sollte man sich doch ein wenig kritische Distanz bewahren. Keine Frage, dass die Fassung, die der Musikologe zusammengestellt hat, kohärent und stringent ist, keine Frage, dass der Maestro mit dem Freiburger Barockorchester in höchster Perfektion musiziert, keine Frage, dass auf der Bühne – allen voran David Daniels in der Titelrolle – brillant gesungen wird. Und doch schien mir etwas zu fehlen. Ich kann es nicht benennen. Vielleicht ist es gerade diese höchste Perfektion, die dem Kunstwerk etwas von seiner ‚Aura‘ nimmt, diese Perfektion, die, so schien es mir, letztlich kalt und emotionslos ist. Mögen die Bühnengestalten auch in ihren Affekten schwelgen. Ihre Emotionen kommen letztlich nicht herüber. Sie lassen den Zuhörer eher kalt, und es entsteht im Laufe des Abends ein Gefühl der gepflegten Langeweile und einer sich langsam steigernden Müdigkeit.
Zu diesem Eindruck der kultivierten Langeweile trägt auch die Inszenierung bei, wenngleich sie keineswegs dürftig und einfallslos ist, wie uns die Feuilletonkritik weismachen will. Sie ist als Traumdiskurs, als Traumspiel mit Albträumen angelegt. Im Traum – so heißt es in einer viel zitierten Passage bei Strindberg – kann alles geschehen, „alles ist möglich und wahrscheinlich, vor einem unbedeutenden Wirklichkeitsgrund entfaltet sich die Einbildung und webt neue Muster […]“. Opfer seiner „Einbildung“, die alles möglich macht: Streit, Todesfurcht, Eifersucht, scheinbare Ausweglosigkeit, die sich im lieto fine in Generosität und Milde auflöst, Opfer dieser traumanalogen „Einbildung“ ist der Prinz Radamisto. Ihm widerfährt der Albtraum eines Familienzwists, der sich mit einer Dreiecksgeschichte verbindet: der dominante Vater, der ihm seinen Willen aufzwingen will, der gewalttätige, triebgesteuerte Schwager, die Schwester, die, wenngleich vom Gatten verstoßen, noch immer zwischen Solidarität mit dem Bruder und Liebe zum Ehemann schwankt, die eigne Ehefrau, die vom Schwager bedrängt wird. Er selber, der von eben diesem Schwager ständig mit dem Tode bedroht wird. Eine Konstellation und ein Szenarium, für die das Libretto noch einen militärischen Apparat auffahren lässt und den die Regie mit ihrer Konzentration auf die Traumwelt gänzlich beiseitelassen kann. In prachtvolle Gewänder gekleidete junge Damen, deren Kostüme wohl nach Modellen der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts konzipiert sind, übernehmen sämtliche stummen Nebenrollen. Sie bereiten noch vor Beginn der Ouvertüre die Tafel für das Familienfest vor, sinken erschreckt zu Boden, als die Musik beginnt und damit implizit der Albtraum angekündigt wird. Sie sind die Entourage oder auch die Gespielinnen des gewalttätigen Schwagers, und sie mimen die Todesgöttinnen, als es Radamisto ans Leben gehen soll. Ganz wie es der Traumwelt entspricht, ist Spielort ein abgeschlossener bläulich halbdunkel Raum, aus dem drei Türen, die je nach dramatischem Moment geschlossen werden, hinausführen. Im Bühnenhintergrund: eine bläuliche Glaswand, eine Art Aquariumswand, in der die Personen sich geradezu aufzulösen scheinen.
Zweifellos eine anspruchsvolle Inszenierung, die konsequent auf eine traumanaloge Ästhetisierung von Geschehen und Ambiente setzt. Ob das Publikum all die zitierten oder auch nur angedeuteten Traumsituationen und Traumsymbole erkennt und zu dechiffrieren weiß? Dem Produktionsteam müssen da bei seiner Arbeit ein paar Zweifel gekommen sein. So hat denn die rührige Dramaturgin im Programmheft ein kleines Lexikon der Traumsymbole beigesteuert. Wer es noch nicht weiß, der erfährt dort, dass nach Freud „alle in die Länge reichenden Objekte […] das männliche Glied vertreten“. Interessant. Aber für die Inszenierung irrelevant.
Wir sahen die Aufführung am 22. Januar, die zweite Vorstellung nach der Premiere am 20. Januar 2013.
Nachtrag vom 29. Januar
Gleichsam als Intermezzo zu den Radamisto Vorstellungen hat Maestro Jacobs eine konzertante Aufführung von Il Trionfo del Tempo e del Disinganno eingeschoben. Und hier gibt es nichts zu mäkeln und zu bekritteln. Eine Aufführung des barock-moralisierenden Oratoriums, Händels römisch katholischer Oper, in der mehr als nur perfekt musiziert und brillant gesungen wurde (allen voran Julia Lezhneva als Piacere). Sagen wir es pathetisch: eine Aufführung mit Emotionen, mit Seele und Ergriffenheit. Vielleicht liegt dem Maestro das Barock-Katholische mit seiner Vanitas Thematik doch näher als die Barockoper mit ihren Staatsaktionen und Liebeshändeln?
Ein großer Abend im Theater an der Wien. Ein Vorschlag an die Intendanz: bringen Sie doch bitte wie die Zürcher und die Stuttgarter Oper eine szenische Aufführung von Il Trionfo del Tempo e del Disinganno heraus. Der Erfolg dürfte vorprogrammiert sein.