Bei Claus Guth, das konnten wir schon so viele Male mit Staunen (und ganz selten mit Ärger) zur Kenntnis nehmen, da ist alles anders. Da werden die alten Geschichten neu erzählt, da werden verborgene Sinnschichten der Handlung aufgedeckt, da werden Verweisungen aufgezeigt, die das Geschehen auf der Bühne in unerwartete Zusammenhänge stellen. Und dies geschieht jetzt auch wieder bei Pelléas und Mélisande. In Frankfurt präsentiert die Regie kein klassisches symbolistisches Theater, wie wir es zuletzt in Robert Wilsons Inszenierung der Oper gesehen haben, kein antirealistisches Theater, das die Figuren gleichsam zu Marionetten macht, die willenlos einer unbestimmten „Fatalité“ ausgeliefert sind, wie es Maeterlincks Libretto will. In Frankfurt verwandelt die Regie Maeterlicks Antimärchen oder, wenn man so will, dessen Antimysterienstück in ein bürgerliches Trauerspiel mit einem Personal, das auf Figuren aus den Buddenbrooks verweist.
Sie alle sind in die Enge einer großbürgerlichen Villa der Jahrhundertwende eingeschlossen, einer Villa, in der der uralte König Arkel als herrischer Konsul Jean seine Sippe tyrannisiert. Prinz Golaud, ein zu Beginn selbstbewusster und am Ende gebrochener Thomas Buddenbrook, ist zum Privatier oder, was in Frankfurt nahe liegt, zum Banker geworden. Maeterlicks verträumte Lichtgestalt Pelléas ist zum verhaltensgestörten ältlichen Junggesellen mutiert, die Karikatur eines Christian Buddenbrook. Beim introvertierten Kind Yniold liegt die Analogie zum letzten der Buddenbrooks, zu Hanno, nicht fern. Nur bei der Person der Mélisande wollen die Thomas Mann Verweisungen nicht so recht passen. Zwar ist Mélisande wie Gerda Buddenbrook eine Außenstehende, die Thomas /Golaud in die Sippe einführt. Doch sie ist keine Kaufmannstochter aus dem fernen Amsterdam, auch keine präraffaelitische ‚femme fragile‘ mit kränkelnder Erotik und von unbestimmter Herkunft wie Maeterlicks Mélisande. Die Mélisande, wie sie Claus Guth versteht, findet Golaud nicht im dunklen Märchenwald an einem Brunnen, sondern wohl eher auf dem Straßenstrich. Und diese ‚femme fragile‘ ist bei allem Leiden, aller Angst und Verzweiflung, allem Eingeschlossen-Sein in die dumpfen Salons und Schlafräume des Buddenbrooks- Hauses eine recht handfeste ,femme fatale‘, die den armen, ach so verklemmten Pelléas in arge sexuelle Bedrängnis bringt und den klapprigen, greisen Konsul längst vergessene, unterdrückte Regungen spüren lässt. Selbst in der Todesszene da scheidet sie nicht still in weißen Linnen liegend dahin, da ist sie eher eine La Traviata, die noch im Tode Rouge auflegt, eine La Traviata, die im schwarzen Unterkleid langsam ins Dunkle, in die Nacht entschwindet – ganz so wie sie aus der Nacht hergekommen war. Und in dieser Nacht treiben die Untoten ihr Unwesen. Nicht aus „Glanz und Wonne“ kam sie her, sondern aus Nacht und Dunkel und Tod. Die „Fatalité“, der sie alle erliegen – die verkrusteten und verklemmten, die in sich eingeschlossenen und zur Kommunikation unfähigen Buddenbrooks Karikaturen – diese „Fatalité“ konkretisiert sich für sie in der Figur der ‚femme fatale‘ Mélisande, die sie alle vernichtet zurücklässt.
Eine anspruchsvolle Regiekonzeption, die Schlüsselwerke der Jahrhundertwende miteinander verknüpft, das scheinbar Reale eines großen Romans und das Märchenhafte, das Antireale eines großen Theaterstücks. Und erzählt wird die Geschichte von der stetig wachsenden Eifersucht und vom Brudermord so spannend wie ein Hitchcock Krimi. Unnötig hinzuzufügen, dass der Regie immer wieder brillante Einzelszenen gelingen, die ‚Reales‘ , Märchenhaften und als Zugabe Groteskes miteinander verbinden: in der berühmten Haarszene da lässt Mélisande ihr langes Haar nicht vom Turm herabfallen, da spielt sie nicht Rapunzel, da spielt sie die ‚femme fatale‘, rekelt sich im Nachthemd im Sessel und schafft Pelléas große Not (und Golaud räumt eine Etage darüber das Kinderzimmer auf). In der Liebestodszene da spielen die beiden in schwarzer Nacht vor dem Fenster des eifersüchtigen Gatten Tristan und Isolde und damit Eros und Thanatos auch so richtig konkret zusammen kommen, erschlägt Golaud zum Kuss des Paares seinen Rivalen mit einem phallischen Kerzenleuchter.
Und Musik und Gesang? In Frankfurt ist ein Debussy der Spitzenklasse zu hören: eine unendliche Symphonie der sanften Melancholie, eine morbide Klangmagie, die fasziniert und betört. In Frankfurt stehen mit Christian Gerhaher und Christiane Karg in den Titelrollen zwei grandiose Sängerschauspieler auf der Bühne. Pelléas et Mélisande in Frankfurt sollte man nicht versäumen.
Wir sahen am 25. November die sechste Vorstellung. Die Premiere war am 4. November 2012.