Man kann aufatmen. Auch Deutschland hat endlich einen poeta philosophus, der sich berufen fühlt, ein Weltenpoem zu schreiben, zu singen vom Abstieg in die Unterwelt und vom Aufflug in die Himmel, zu fabulieren von der Menschheit, die sich aus dem Elend befreit, hin zur irdischen Glückseligkeit („ad felicitatem“), der zu erzählen weiß vom Ewigweiblichen. Italien hatte zwar schon vor 700 Jahren einen bis heute hin berühmten poeta philosophus, der mit philosophischen und politischen Traktaten und vor allem mit einem viele Tausend Verse umfassenden Poem Aufsehen erregte. Aber, mein Gott, was soll‘s. Wir sind nur Nachgeborene. Wir haben halt unseren Philosophen aus Karlsruhe, den es unter die Dichter, sprich: Librettisten verschlagen hat. ‚Ein Zwerg auf den Schultern von Riesen‘, der gern mehr als diese sehen möchte. Doch kaum mehr als zu blinzeln vermag. Sein Werk nennt sich nicht einfach Commedia wie das des illustren Florentiners, sondern, wohl ob der Schauder erregenden Assoziationen, Babylon. Und da unser Zwerg im Nebenberuf auch noch ein deutscher Professor ist, schreibt er natürlich ein Professorenlibretto. Einen hybriden Text, in dem sich babylonische und jüdische, griechische und christliche Mythen wie die Erzählungen von der Sintflut, vom Turmbau zu Babel, von den Posaunen des Josua, die die Mauern der Stadt zum Einsturz bringen, vom Tanz um das goldene Kalb vermischen, in dem die babylonische Fruchtbarkeitsgöttin Astarte sich – nein nicht mit Adonis, sondern mit einem schönen jungen Juden vereinigt, den die heidnischen Priester abschlachten und den Astarte aus dem Totenreich befreit und zur Auferstehung führt, eine Variante des Christusmythos oder auch eine Variante von Isis und Osiris oder auch vom sterbenden und wiederauferstanden Dionysos. Ein Libretto, das vom Werden der Zivilisation aus der Barberei erzählt, Initiationsriten und Prophetie verbindet – ‚Arbeit am Mythos‘, die – so im Duett des Liebespaares – auch vor Operettenkitsch nicht zurückschreckt.
Nicht genug damit. Es gibt auch noch die Talmud Schule, in der der Prophet Ezechiel seinem Schreiber göttliche Offenbarungen in die Thora diktiert. Ferner das Kind mit prophetischen Gaben, das die neue Zeit verkündigt, des weiteren die Allegorie der Seele, die sich mit der Göttin der Wollust um den Jüngling streitet, die Erscheinung der Flussgöttin als Personifizierung des Euphrat. Und das reicht dem deutschen Professor immer noch nicht. Zum Weltenpoem braucht’s auch noch die sieben Planeten, die Allegorisierung des Todes und noch den „Skorpionmenschen“, der zur Introduktion und zum Finale durch die Szene geistert. Und noch vieles andere gibt es zu sehen.
Angesichts dieser Materialfülle seufzt die Zuschauerin nur noch: „Geht es nicht ein bisschen kleiner“. Oder soll sie lieber sagen: was hier als Vermischung und Überlagerung von Mythenfragmenten präsentiert und in Szene gesetzt wird, das ist letztlich ein unverdaulicher Mythensalat. Vielleicht auch ein spätes Fest einer nicht mehr so ganz so aktuellen Postmoderne, bei dem sich alles mit allem vermischt – von orientalischen und griechischen Mythen bis hin zur Wiener Operette. Wenn das alles allerdings als Postmoderne gemeint sein sollte, dann fehlen zwei Kriterien, die zur Postmoderne unabdingbar dazu gehören: eine ironische Erzählhaltung den zitierten Materialien gegenüber und ein spielerischer Umgang mit diesen. Nichts oder kaum etwas davon findet sich im Libretto. Hier regieren – vielleicht mit Ausnahme des Liebesduetts im ersten Bild – deutscher Tiefsinn und Gedankenschwere.
Und was macht die Musik? Sie passt sich zwar dem hybriden Libretto an, sucht jedoch etwas von dessen Ernsthaftigkeit zurück zu drängen, ihm die Schwerlastigkeit zu nehmen. Sie spielt mit Witz und Ironie Postmoderne, zitiert mit leichter Verfremdung aus allen Epochen – von der Choralmusik bis hin zu Operette, Musical, Filmmusik und Oktoberfestsound – und beschert einem begeisterten Publikum Wiedererkennungserlebnisse. Selbst dann, wenn sie einmal ganz zeitgenössisch klingt, auch dann überfordert sie das Publikum nicht. Prima la musica, poi le parole e la messa in scena? Es war wohl eher umgekehrt.
Manchmal hätte man sich gewünscht, dass der Musiker sich nicht so oft von seinem Librettisten auf den zweiten Platz hätte drängen lassen. Doch wenn sich der Theatermacher, wie es bei Carlus Padrissa nicht anders zu erwarten war, auf die Seite des Librettisten schlägt, dann hat es der Musiker schwer, wenn er mithalten will. Wie es sich für großes Welttheater gehört, schont Padrissa weder Chor, noch Statisterie, noch Bühnenmaschinerie noch Lichtregie. Da fallen Städte wie Bauklötze zusammen, da schleppen die Statisten die Steine und bauen neue Türme, da leuchten grell die bunten Hologrammbilder, da führt eine steile Treppe in die Unterwelt, und der Tod, ein eher freundlicher Onkel Tom, hockt inmitten von Hologrammleibern, da fährt die Göttin, die zuvor auf Befehl von Onkel Tom und seinen beiden Geharnischten sich (fast) all ihrer Kleider entledigt hat, mit ihrem Geliebten ganz modern in einem Miniraumschiff in die Sternenwelt, da singt eine halbe Hundertschaft Talmud-Schüler Psalmen, da feiern die Babylonier ein orgiastisches Fest in einer Mischung aus Oktoberfest und Ballermann, da kommt die Göttin im Sambakostüm ( so will es der Librettist ) herabgeschwebt und setzt den Jüngling unter Drogen. Ja, und vielleicht ( so will es der Librettist) war das alles, was da auf der Bühne zu sehen war und was uns Zuschauer in guter alter Barockmanier zum Erstaunen bringen soll, doch nur eine „Vision“ des Jünglings, ein Traum. „Das Leben ein Traum“. War’s das? Schön und unterhaltsam war es alle Male, vor allem für den, der an Materialschlachten Gefallen findet. Ein Haus von “ Prunk und Protz“ nannte unlängst ein wohlmeinender Kritiker den bayerischen Musentempel. Der Mann hat Recht.
Wir sahen die Vorstellung am 31. Oktober 2012, die zweite Aufführung. Die Premiere war am 27. Oktober 2012.