Nach seinem spektakulären Orfeo, den er als die Katastrophe eines modernen Intellektuellen, der sich in Wahn und Verzweiflung hineinsteigert, erzählte, hat Regisseur Claus Guth sich auch in seinem Ulisse für eine moderne, eine fast heutige Variante des Odysseus-Mythos entschieden. Sein Ulisse kehrt nicht nach Ithaka zurück: er ist schon da, schon da in Penelopes Hotel, das an ein Sanatorium im Zauberbergstil erinnert, ein Hotel, in dem ein sichtlich verstörter, von niemandem erkannter Ulisse von seinen Kämpfen halluziniert und durch die Räume irrt, ein Hotel, in dem sich die Freier wie schwule Gangster an der Hotelbar lümmeln, in dem die alte Amme im Outfit eines Zimmermädchens der ewig klagenden Direktrice den Morgenkaffee serviert, in dem Melanto zur Hotelsekretärin und ihr Liebhaber Eurimaco zum Bodyguard werden und aus dem Schweinehirt ein Gärtner wird. Telemacho darf den verwöhnten Softy mimen, der mit dem wider alle Erwartung zurückgekehrten Papa, der so gar nichts von einem Kriegsheld hat, trotz aller Zärtlichkeitsbekundungen nur wenig anzufangen weiß und der, als Ulisse als routinierter Einzelkämpfer Bodyguard und Freier mit dem Revolver zusammenschießt, sich vor lauter Schreck gleich verkriecht. Dass die elegante Penelope, die trotz ihrer (vielleicht nur noch rituellen) Lamenti einem Flirt mit ihren Verehrern gar nicht abgeneigt ist, diesem angeblichen Ulisse, der da in ihrer Hotelbar wohl auf den Rat seiner Therapeutin hin (einer gewissen Minerva, die ihre angebliche Göttlichkeit in einer Art Heilsarmeeuniform versteckt) ein Massaker veranstaltet hat, dass diese Penelope ihre Schwierigkeiten mit dem wiedererstandenen Odysseus hat, versteht auch der simple Zuschauer. „Das ist schon richtig, dass die Frau gegenüber diesem Kerl misstrauisch ist“, bemerkte dazu im breitesten Wienerisch die Dame hinter mir. Und da hat sie wohl recht.
In seiner Variante des Odysseus-Mythos erzählt Claus Guth indes kaum vom Geschick der Penelope, sondern vor allem von den Traumata eines Soldaten, von dessen verzweifeltem Versuch, sich in einem bürgerlichen Leben wieder zurechtzufinden, sich wieder einzugliedern, die Rolle des braven und biederen Ehemanns wieder zu übernehmen. Und nicht zuletzt erzählt er von dem sehr wahrscheinlichen Scheitern all dieser Bemühungen. Im Finale sitzen Ulisse und Penelope Händchen haltend auf der Couch, versuchen sich an ein paar ungeschickten und konventionellen Zärtlichkeiten und starren auf das Kaminfeuer, in dem Ulisse seine Kampfmontur verbrennen und damit offensichtlich seine kriegerische Vergangenheit auslöschen will. „Das hohe Paar“ im Spießerglück – so suggeriert es die Regie im Schlussbild. Ein bitterer, ein böser, ein satirischer Schluss.
Den Odysseus-Mythos als die Geschichte vom traumatisierten Spätheimkehrer zu erzählen, diese Variante des Mythos ist (auch in seiner szenischen Umsetzung auf der Opernbühne) nicht unbedingt neu. In der vergangenen Spielzeit war diese Variante im Palladium, dem Ausweich- und Notquartier der Kölner Oper, zu sehen. Dort ist Ulisse ein verstörter Vietnam-Veteran, der im Kampfanzug mit dem Schnellfeuergewehr in der Hand in ein Amerika der Pop-Art Kultur zurückkehrt, in ein Amerika der grellen, plakativen Farben, der kleinen Häuschen mit dem gepflegten Kunstrasen, in eine Welt, in der Penelope ihn nicht im Bett halten kann: Ulisse geht wieder davon. Zum neuen Kampf um Troja oder zurück zu Calypso, zu Circe, zu Nausikaa? In Köln hält man wenig von der Tragödie des Ulisse und setzt den Hauptakzent auf Komik und Groteske und Karneval. Die Götter sind lächerliche Popanzen, die Nebenfiguren sind von Sex oder Fresssucht Besessene, Penelope ist eine ältliche amerikanische Hausfrau.
Nichts von alle dem findet sich in Guths Wiener Variante des Mythos. Hier sind die Götter – ihre Köpfe verhüllen sie mit Masken – eine permanente Bedrohung für die Menschen, die für sie nichts als Spielfiguren sind. Allein Minerva tritt in den Szenen, in denen sie Ulisse leitet, in menschlicher Gestalt auf. In der Wiener Inszenierung verliert die Oper nichts oder kaum etwas von ihrer Fallhöhe. Ulisse erlebt in seinen Halluzinationen die Schrecken des Krieges, des modernen Krieges, immer wieder neu. Er muss immer wieder neu erleben, wie seine Gefährten zu Tode kommen. Sie werden nicht von Zyklopen und Meeresungeheuern getötet, sondern in ihrem Jeep zusammengeschossen. Die Therapeutin Minerva, wenngleich sie sich alle Mühe gibt, Ulisse von seinen Traumata zu heilen und ihn zu sich selber zurückzuführen, kann ihrem Schützling letztlich nur ein spießiges Glück verschaffen und stößt ihren Patienten damit gleich in das nächste Unheil. Ulisse, so suggeriert es offensichtlich die Regie, bleibt ein Getriebener, kommt nie an, kommt nie zu sich selber.
Guths Version des Ulisse ist vielleicht nicht ganz so geschlossen, nicht ganz so originell, wirkt nicht so faszinierend wie sein Orfeo. Doch beindruckend in ihrer Konzeption und deren szenischer Umsetzung ist sie alle Male. Dass auch beim Ulisse ein Ensemble brillanter Sängerschauspieler aufgeboten wird, dass alle Rollen herausragend besetzt sind, das gehört schon zu den Selbstverständlichkeiten im Theater an der Wien. Ob die Puristen mit der Wiener „Strichfassung“ mit ihren „relativ radikalen Kürzungen“, die Claus Guth als Regisseur und Christophe Rousset als Dirigent gemeinsam erarbeitet haben, einverstanden sind, das sei dahingestellt. Mir jedenfalls – und da bin ich mit dem Produktionsteam ganz einer Meinung – erschienen die Kürzungen durchaus angemessen und von Vorteil für die Oper. „Ich bin davon überzeugt, – so zitiert das Programmheft Christophe Rousset – dass Kürzungen sowohl den Sängern auf der Bühne als auch uns Musikern im Graben als auch dem Publikum im Saal etwas bringen. […] Auch, wenn das gegenüber der Originalgestalt manchmal als Verlust erscheinen mag, ist es für die theatralische Gestalt des Werkes als ganzes meist ein Gewinn“ (S. 42). In der Tat ist die Wiener Strichfassung ein Gewinn für Il Ritorno d‘Ulisse in Patria. Ein gelungener, ein großer Monteverdi- Abend im Theater an der Wien. Wir sahen die Vorstellung am 9. September, die erste Aufführung nach der Premiere am 7. September 2012. Weitere Aufführungen sind noch am 11. / 13. / 15. / und 17. September.