Und wieder im Pariser Opernmuseum: Le Nozze di Figaro in der Inszenierung von Giorgio Strehler. Capriccio und Les Contes d’Hoffmann inszeniert von Robert Carsen

Es mag ja sein, dass es Inszenierungen gibt, die so herausragend und so spektakulär sind, dass sie auch noch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben: Inszenierungen wie Wernickes Rosenkavalier, La Clemenza di Tito in der Version der Hermanns oder Bob Wilsons Pelléas et Mélisande. Ob das auch für die angeblich legendären Le Nozze di Figaro des einst so gefeierten Theatermachers Strehler gilt, da habe ich – mit Verlaub gesagt – doch meine Zweifel. Wir sahen jetzt im großen Haus der Bastille Oper die 183. (sic) Aufführung der Inszenierung vom Jahre 1973. Natürlich ist es ungerecht und unangemessen, unsere vom modernen ‚Regietheater‘ geformten oder meinetwegen auch deformierten Vorstellungen auf eine so altehrwürdige Inszenierung zu übertragen. Aber reicht es wirklich, das Pastiche einer Fragonard Welt auf die Bühne zu bringen, eine Rokoko Welt der schönen Bilder im Fragonard Licht zu evozieren, die Darsteller wie Modepuppen in die prachtvollen Kostüme des Rokoko zu stecken und sie durchweg von der Rampe schön singen zu lassen? Ja, sie sangen – vielleicht mit einer Ausnahme – wirklich schön. Temperament und Schwung waren nicht gefragt – weder auf der Bühne noch im Graben.

In Schönheit schön singen zu lassen, ohne sich allzu sehr um die Dramaturgie des Stücks zu kümmern, ohne an das Spiel der Liebesdiskurse und deren Funktion für die Handlung einen Gedanken zu verschwenden, reicht das wirklich aus, auf dass die Inszenierung eines einst so berühmten Künstler Kultstatus gewinnt? Wäre es in Paris nicht an der Zeit, an eine Neuproduktion von Le Nozze di Figaro zu denken? Aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Das Haus war ausgebucht. Man kriegt bestimmt auch noch die 200. Aufführung hin. Dem Publikum hat es gefallen, wenn es nicht beim knapp vierstündigen Schauen auf in mattes Licht getauchte Schönheit eingeschlafen ist. Ganz in meiner Nähe schlummerten ein paar Besucher matt und selig vor sich hin und ließen ihre Taschen, Wasserflaschen und Schlüssel lautstark zu Boden fallen. Knalleffekte im Wortverstande zum sanften Mozart-Sound.

Wir sahen die Vorstellung am 29. September 2012.

Zwischen der Strehler Inszenierung und den Arbeiten eines Robert Carsen liegen nicht nur drei Jahrzehnte, sondern einfach Welten. Man muss das ‚Regietheater‘ ja nicht mögen. Aber wenn Carsen Les Contes dHoffmann inszeniert, dann sind wir nicht im Illustrationstheater, dann verwandeln sich die imaginierten Liebschaften des Trunkenbolds Hoffmann in großes Theater, in Theater auf dem Theater, in Oper in der Oper. Ort des Geschehens, Spielort ist das Opernhaus selber. Auf dem Theater wird – ganz wie es das Libretto will – Don Giovanni gegeben, und hinter der Bühne, auf der Rückseite der Don Giovanni Kulissen, entwickelt sich das Geschehen um den betrunkenen Literaten Hoffmann. Da wird aus Luthers Weinstube das Foyer oder auch die Kantine des Opernhauses, in die die Bauerngesellschaft aus dem Don Giovanni in der Pause hineinströmt, da wird zum großen Gaudi der spanisch gekleideten Gesellschaft aus der Puppe Olympia eine Art Carmen-Verschnitt, und der Bösewicht, der die Fäden zieht, das Gaudi stört und doch gleich mitspielt, könnte der Theaterdirektor selber sein. Im zweiten Akt – wir sind zeitlich immer noch in der Pause der Don Giovanni Aufführung – spielt das Geschehen im Orchestergraben. Da ist aus dem bösen Arzt Doktor Miracle der Dirigent geworden, der die brustkranke junge Sängerin Antonia gleichsam zu Tode hetzt, Antonia, die in ihren Wahnvorstellungen ihre Mutter als Donna Anna auf der Bühne erlebt, selber auf die Bühne stürzt und als eine Art Gilda in Vater Rigolettos Armen stirbt. Und im gleichen Augenblick spielt das fiktive Orchester, das in den Graben nach der Pause zurückgekehrt ist, scheinbar die ersten Takte zum zweiten Akt des Don Giovanni, und das wirkliche Orchester im wirklichen Graben spielt den Schlussakkord des zweiten Akts von Les Contes d’Hoffmann. Und im dritten Akt? Im verruchten Venedig? Da sind wir eben nicht in Venedig, sondern auf der Opernbühne, wo der Bösewicht, dieses Mal in der Rolle des Regisseurs, melodramatische Liebesszenen zwischen der Primadonna und dem Tenor probt, während die Chorsänger im Zuschauerraum des Theaters im Theater noch recht unbeholfen ein paar scheinbar laszive Operettenszenen proben. Und der Epilog? Da liegt ein betrunkener Hoffmann nach Vorstellungsende, von allen verlassen, auf der leer geräumten Hinterbühne, und die Muse als Todesengel führt ihn ins Licht? In den Tod? Oder in den Olymp? Ein neuer Orpheus, den Apoll in den Himmel geleitet? Eine Referenz auf das Finale von Monteverdis Orfeo? Vielleicht. Ein offener, ein vieldeutiger Schluss.

Carsens Pariser Hoffmann, das ist nicht nur Theater auf dem Theater, Oper in der Oper. Das ist auch ein Spiel mit Opernzitaten. Hier werden die phantastischen Geschichten des deutschen Romantikers nicht einfach als „opéra fantastique“ in Szene gesetzt. Hier wird aus der Vorlage eine neue opéra fantastique und zugleich eine Meta-Oper auf der Basis von Opernzitaten. Hier wird eben nicht wie noch bei Strehler die Handlung einfach illustriert. Hier gibt es eine Grundkonzeption, aus der das Geschehen neu gedeutet wird. Und wenn dann noch wie jetzt in der Bastille Oper in allen Rollen „phantastisch“ gesungen und gespielt wird, dann bleiben keine Wünsche offen. Endlich einmal eine Les Contes d’Hoffmann Aufführung, die nicht als langweilige Nummernoper mit erotischen Kleinbürgerphantasien daher kommt, sondern ein großer Opernabend. Wir sahen die Vorstellung am 28. September 2012, die laut Programmheft 55. Aufführung der Carsen Inszenierung vom Jahre 2000.

Nicht nur im Hoffmann auch bei seiner Inszenierung von Capriccio, des scheinbar so einfach gemachten Konversationsstück („Conversation en musique en un acte“) des späten Richard Strauss orientiert sich Robert Carsen an der Grundkonzeption, an der Vorstellung vom Theater auf dem Theater. Und wie beim Hoffmann weiß er auch Capriccio zum großen Spektakel zu steigern, zum Spektakel des Metatheaters. Eine Konzeption, die das Libretto nahelegt. Alles ist nur ein Spiel der Illusionen: der scheinbar so ernsthafte Dissenz zwischen dem Musiker und dem Literaten über das Verhältnis von Musik und Text, die Theateraufführung zum Geburtstag der Gräfin, der Geburtstag selber, das scheinbar wirkliche Geschehen auf der Bühne als gespieltes Libretto für eine noch zu schreibende Oper, die Oper, die das Publikum im Saale gerade hört. Die Gräfin, die gerade eben in großer Staatsrobe wie die Marschallin aus dem Rosenkavalier aufgetreten ist und die die Gräfin oder die Marschallin doch nur in der noch zu schreibenden und doch gerade aufgeführten Oper gespielt hat. Alles ist nur Schein, alles sind nur Illusionen. Im Schlussbild werden die Kulissen, die gerade noch einen hochadligen Empfangssaal darstellten, beiseite geräumt, und die Gräfin entledigt sich der Staatsrobe. Alles ist nur Theater. Barockes Spiel von Sein und Schein.

Es mag ja sein, wie böse Zungen gern behaupten, dass der späte Strauss nur noch der Schatten des einstigen genialischen Komponisten sei und dass es nur noch zum Selbstzitat oder allenfalls zum variierenden Selbstzitat reiche. Doch auch im Selbstzitat oder in der Synthese seines Schaffens, wie es wohl Capriccio darstellt, ist die Strauss Musik für den, der sie halt mag, noch immer anziehend und ’schön‘. Und dies erst recht, wenn sie so ’schön‘ und vollendet präsentiert wird wie jetzt im Palais Garnier unter der Leitung von Philippe Jordan. Prima la musica e poi la messa in scena? Die Frage lässt sich so wenig entscheiden, wie im Capriccio der Dissenz zwischen dem Literaten und dem Musiker, ob der Musik oder dem Text der Vorrang gebühre. „Schafft gemein ein Werk für unser Fest“ , ruft im Capriccio die Gräfin dem Literaten und dem Künstler zu. In der Pariser Oper haben der Dirigent Philippe Jordan und der Regisseur Robert Carsen diesen Vorschlag realisiert. „Gemeinsam“ haben sie ein grandioses Fest der Musik und des Theaters geschaffen – eben Musiktheater par excellence.

Die Capriccio Premiere war im Juni 2004. Wir sahen die Vorstellung am 28.September 2012.