Zum Auftakt der neuen Spielzeit wagt man sich In Frankfurt an eine „Frankfurter Erstaufführung“, an eine amerikanische Oper vom Jahre 1958 auf ein Libretto von Gian Carlo Menotti. Um das Risiko nicht allzu groß werden zu lassen (und wohl auch um die Produktionskosten gering zu halten), übernehmen die Frankfurter eine Inszenierung der Malmö Opera aus dem Jahre 2009. Ich weiß nicht so recht, ob der Aufwand sich gelohnt hat. Mir kamen Musik und Textbuch ziemlich seicht vor: eben wie ein gut gemachtes Hollywood Mélodrame mit der entsprechenden Filmmusik. Eine Musik, die kaum Anforderungen an den Zuhörer stellt, die weder avantgardistisch noch altbacken ist, die ein bisschen Puccini und Massenet und sicher noch manch andere berühmte Vorgänger variierend zitiert. Letztlich eine Musik, die, soweit ich das als interessierter Laie beurteilen kann, sich im Rahmen des Konventionellen und Gefälligen bewegt: eben Filmmusik im besten Sinne des Wortes. Und das Libretto? „Vanessa ist ein Stück über die Unmöglichkeit der Liebe aufgrund von Sprachlosigkeit und Verdrängung“ – so verkündet (ein bisschen pathetisch) Katharina Thoma, die für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, im Programmheft.Eine Bemerkung, die zweifellos den Sachverhalt trifft und das Libretto gleichsam auf den Punkt bringt. Doch es ist nicht nur das. Was da auf der Bühne zu sehen ist, das ist die Mär von den Eingeschlossenen. Räumlich eingeschlossenen in ein großbürgerliches Haus, nach außen von der Welt abgeschlossen durch die Eisschollen des Winters, von einander abgeschlossen und eingeschlossenen in eine jeweils eigene Welt der Illusionen, in dieser Enge warten zwei Frauen, eine jüngere und eine reifere – nein nicht auf Godot, sondern auf die Liebe oder besser gesagt: auf den Liebhaber. Und als er kommt, nicht als der von Vanessa, der älteren, seit zwei Jahrzehnten Ersehnte, sondern als der Sohn des einstigen Liebhabers, da flüchtet sich Vanessa nach nur kurzem Zögern in die Illusion der Liebe, in eine Lebenslüge und fährt mit dem (relativ) jungen Mann davon in eine neue Traumwelt, nach Paris. Und die Jüngere, die dem von ihr unbewusst Ersehnten ohne großes Zögern zugefallen war, bleibt zurück, wartend darauf, dass er zurückkehre. Nein, sie spinnt und singt nicht, wie das in den Märchen die sehnsuchtsvoll wartenden Mägdelein tun: sie starrt durchs Fenster auf die Eisschollen und in ihrer Imagination wartet er schon draußen auf dem Eis und wird gleich eintreten. Und dieser Er mit dem schönen Schnitzler Namen Anatol ist, wie könnte es anders sein, eine nichtige und oberflächliche Person. Und die Frauen wissen es, und er weiß es, und die Frauen wissen, dass sie beide ihn lieben, und er weiß es, und er liebt letztlich keine von beiden. Und alle schweigen, auf dass die Lügenwelt, die sie sich konstruiert haben, nicht über ihnen und mit ihnen zusammenbreche. Das ist alles sehr traurig, das ist alles kein bisschen tragisch, das ist alles nur Kitsch, süßer Kitsch, Falschheit, Nichtauthentisches aller Orten.
Keine Frage, dass dieser Kitsch gekonnt und überzeugend in Szene gesetzt wird, dass brillante Sängerschauspieler auf der Bühne agieren, dass der Soundtrack manch Herzelein rührt. Aber für Hollywood Kino aus den späten Fünfzigerjahren braucht man nicht unbedingt nach Frankfurt zu fahren. Dem Premierenpublikum hat es gefallen. Wir sahen die Aufführung am 2. September 2012.