Bejun Mehta und Marc Minkowski triumphieren mit Händels Tamerlano
Nach der „Ouverture spirituelle“ mit ihren Bußübungen für l’art pour l’art Anhänger bietet Salzburg zur Mitte der Festspiele Hochkultur und unbeschwerten Hochgenuss. Und auch der Verwöhnteste kann nur noch sagen kann: besser geht es nicht. Ich hatte Tamerlano zuletzt in München und Madrid gehört, ohne sonderlich beeindruckt gewesen zu sein. Doch jetzt in Salzburg, wo Minkowski mit Les Musiciens du Louvre Grenoble konzertant Tamerlano aufführte, wo nichts von Gesang und Orchesterklang ablenken konnte, da hat mich diese Oper fasziniert.
Mit welcher Brillanz und Leichtigkeit Bejun Mehta in der Titelrolle seine Arien vorträgt, ganz gleich, ob es die sanften arie amorose oder die Ausbrüche des Zorns, der Rachsucht und der Wut in den Affekt geladenen Arien sind, das ist einfach grandios und nur noch zu bewundern. In einer überregionalen Tageszeitung ernannte ein Kritiker, der sich wohl von der Londoner Olympiade in den Salzburger Konzertsaal verirrt hatte, Mehta gar zum „ zur Zeit weltbesten Countertenor“. Das mag auch so sein. Und wenn wir schon im Sportjargon reden, dann gebühren auch allen anderen Mitwirkenden zumindest Silber- und Bronzemedaillen. Franco Fagioli in der unglücklichen Rolle des scheinbar verschmähten Liebhabers hatte es als secondo uomo unter dem primo uomo Mehta wahrlich nicht leicht und hielt sich doch beachtlich. Unter den Damen gebührt zweifellos Julia Lezhneva die Goldmedaille. Eine mädchenhafte Asteria, die mit ihrem glockenklaren Sopran das Publikum geradezu hinriss.
Liebling des Publikums ist indes noch immer Placido Domingo – mag er auch inzwischen ein wenig vergreist wirken. Wie er die Rolle des hochmütigen und am Ende so resignierten Bajazet gestaltet, da ist er immer noch beeindruckend. Seltsam nur, dass, wenn Domingo Händel singt, man immer gleich an Verdi denken muss. „Das ist ja wie Simone Boccanegra, nein wie Vater Rigoletto“, flüsterte hinter mir ganz ergriffen eine ältere Dame. Wie dem auch sei. An diesem langen Abend im großen Festspielhaus – ein bis fast zum Schluss diszipliniertes Publikum harrte bis nach Mitternacht aus – konnte man einen Händel hören, wie er perfekter und schöner wohl nicht geboten werden kann. Ein Händel ohne läppische Melancholie, ohne ermüdende Längen, ohne bombastische Effekthascherei. Ganz einfach: Musik und Gesang vom Allerfeinsten. Wir sahen die Aufführung am 12. August.
Hofmannsthal in Person imaginiert und inszeniert eine Komödie mit anschließender Oper als Therapie für eine melancholisch-depressive Freundin: Ariadne auf Naxos
Man muss dem Affen ja nicht immer Zucker geben. Es muss ja nicht immer die Puccini Süße und der ewige Zauberflöten Mozart sein. Es geht wie jetzt bei der Ariadne auch anders. Auch das scheinbar Bekannte lässt sich neu einrichten und mit großem Erfolg zur Rarität stilisieren. Sven-Eric Bechtolf inszeniert die Ariadne in der Urfassung von 1912: „Zu spielen nach dem Bürger als Edelmann des Molière in der Bearbeitung von Hugo von Hofmannsthal“. Doch Theatermann Bechtolf ist viel zu subtil und manieriert, als dass er sich damit begnügte, eine opera seria und eine „Charakterkomödie“ nebst „mimischen und musikalischen Divertissements“, wie Hofmannsthal Molières Bourgeois-gentihomme umschreibt, gleichsam vom Blatt in Szene zu setzen. Für Salzburg muss es schon eine eigene Fassung sein.
So setzt Bechtolf denn auf den Zwitter aus Oper und „Komödie mit Tänzen“, ein an sich schon recht hybrides Stück, bei dem die beiden Teile nicht so ganz zusammenpassen wollen, ein weiteres Stück drauf. Eine Melange aus Therapiestunde und Gesellschaftskomödie im Schnitzler Stil, die sich an dem Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und der jungen Witwe Ottonie von Degenfeld-Schonburg orientiert. Der Literat Hofmannsthal, der in die Dame verliebte Literat Hofmansthal, versucht sich als eine Art Dr. Freud der Literatur, um die ewig trauernde, verlassene Ottonie von ihrem Schmerz zu befreien und ins Leben zurück zu holen. Dazu bedarf es nicht der Analyse, sondern der Scheinwelt des Theaters, der Komödie und der Oper. Während Hofmannsthal der depressiven Dame aus seiner Bearbeitung der Molière Komödie vorliest, werden aus seiner und der Imagination der Zuhörerin die Figuren des Stücks lebendig, werden Bühnenerscheinungen: Monsieur Jourdain, der es so ungeschickt den Adligen gleich tun will, seine Lakaien, der Haushofmeister, der Musiklehrer und der junge Komponist, der aus seiner Oper vortragen lässt, die Schneidergesellen, die tanzenden Küchenjungen. Nicht nur, dass vor den Augen der melancholischen Dame eine Komödie und eine Oper imaginiert und inszeniert werden. Hofmannsthal und sie selber spielen mit: Ottonie ist die umschwärmte Marquise, Hofmannsthal mimt gleich selber den Musiklehrer und den in die Marquise verliebten Grafen Oronte. Und in dieser Verkleidung ist er zugleich der in Ottonie verliebte Hugo von Hofmannsthal.
Auch in der opera seria darf Ottonie mittun: als stumme Doppelgängerin der Ariadne. Und Hofmannsthal als Person macht gleich den Spielleiter. Und vielleicht ist Ottonie am Ende wie Ariadne von ihrer Melancholie, ihrer Depression, ihrer Todessehnsucht geheilt? Vielleicht haben Literatur und Musik doch eine therapeutische Funktion? Oder ist halt alles doch nur Theater? Schöner Schein? Ariadne und Bacchus, die als Theaterfiguren gerade noch die Seligen mimten, ‚verwandeln‘ sich in dem Augenblick, als sie die Szene verlassen, in zwei sich streitende, miteinander rivalisierende Künstler. Ottonie und Hugo, die im Finale ein Paar zu werden schienen, gehen in verschiedene Richtungen davon. Ein offener Schluss, der mit der Imagination der Zuschauer spielt.
Das Theater auf dem Theater, wie es das Textbuch bietet – Monsieur Jourdain bestellt für sich und seine Gäste ein „Trauerstück“ nebst „Tanzmaskerade“, und beides wird ihm vorgespielt – dieses Theater auf dem Theater noch um eine weitere Theaterdimension zu überhöhen und zu erweitern, also sozusagen Metatheater hoch zwei zu spielen, das ist zweifellos ein ehrgeiziges und effektvolles Konzept. Und dass ein Theatermann wie Sven-Eric Bechtolf eine solch anspruchsvolle Konzeption brillant und zugleich unterhaltsam in Szene zu setzen vermag, das versteht sich von selber. Und dass Bechtolf Schauspieler und Sänger der ersten Garnitur um sich zu sammeln weiß, die diese Konzeption mit Bravour und zugleich Sensibilität zu realisieren wissen, all dies ist keine Frage. Und doch: „Es sind Längen [im Stück] – gefährliche Längen“, mit denen sich die nicht des Deutschen mächtigen Zuschauer recht schwer tun. Bechtolf hat zwar im ersten Teil vieles gestrichen. Personen wie Madame Jourdain, der Fechtmeister, der Magister der Philosophie fallen weg und deren verkürzter Part wird dem Haushofmeister bzw. der Magd Nicoline zugewiesen. Und dafür wird seltsamerweise die Oper um die „Abweichungen in der Frühfassung (1911)“ erweitert: also um die Passagen, an denen Jourdain und seine Gäste in die Oper hineinschwatzen und um eine Rede der Zerbinetta in der Bacchus-Szene. Alles Passagen, die in der Endfassung der Oper weggefallen sind – und dies, wie mir scheint, zu recht.
Man möge mich nicht missverstehen: Bechtolf hat uns mit seiner Ariadne in der Urfassung einen höchsten brillanten Theaterabend beschert, ein Theaterexperiment, das sich alle Male gelohnt hat und das ich mir in Wien – dort übernimmt die Staatsoper im Dezember die Inszenierung – noch einmal ansehen werde. Doch sage ich auch ganz offen, auch wenn ich mich damit als hoffnungslosen Philister oute: ich mag die Ariadne auf Naxos in der gängigen Fassung lieber.
Wir sahen die Aufführung am 15. August, die sechste und letzte Vorstellung nach der Premiere am 29. Juli.