Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ – auch in der Operngeschichte. Alessandro De Marchi und sein Team haben in diesem Jahr besonders tief gegraben und sind dabei auf ein Juwel gestoßen, auf La Stellidaura vendicante von Francesco Provenzale, „die Urform einer Opera semiseria“, die im Jahre 1674 in Neapel uraufgeführt wurde und die in der Tat in Musik und Bühnengeschehen Traurig-Tragisches und Burlesk-Komisches miteinander vermischt, in der sich Elemente der Commedia dell’arte mit gängigen Motiven der klassischen Tragödie verbinden. Wie es sich nach den Regeln der klassischen Poetik gehört, sind die eher folkloristischen Klänge den Dienerfiguren und die Musik im Seria-Stil den „Personen von Stand“ vorbehalten. Doch auch in die scheinbar so ernsthaften Rezitative und Arien der „Personen von Stand “ mischt sich mitunter Komik und bricht das Pathos.
Pathos ganz im Sinne des Leidens, des Leidens an der Liebe, das die Akteure eines Triangle amoureux: den König, die schöne Unbekannte, den Favoriten, den ganzen langen Abend über quält. Und sie haben in der Tat viel Gelegenheit, die Skala der Liebesdiskurse durchzusingen und durchzuspielen. Vom Liebesglück über die Eifersucht, die Missverständnisse, die Hassausbrüche gegenüber dem Rivalen bis hin zur Trauer über den vermeintlichen Tod der Geliebten, alles ist vorhanden und wird brillant gesungen und gespielt. Objekt der Begierde des Fürsten und seines Favoriten ist die schöne und zugleich sehr energisch- emanzipierte Stellidaura ( in der Person der Jennifer Rivera), die schon mal selber zu Degen und Messer greift, um Rache zu üben und die dabei beinahe zu Tode gekommen wäre, ja wenn der scheinbar so tölpelhafte Diener nicht den Gifttrunk mit einem Schlaftrunk verwechselt hätte und wenn der novellistische Zufall es nicht so gefügt hätte, dass die Unbekannte sich als Prinzessin und Schwester des verliebten Königs erweist und damit dem verliebten Favoriten die Prinzessin zufällt.
Ein etwas hastiges lieto fine für den König, der beinahe seine Schwester vergiften hätte lassen und für die Liebenden, die beinahe ein Romeo und Julia Schicksal ereilt hätte. Doch wir sind ja, wie schon gesagt, nicht nur in der Tragödie, sondern auch in der Commedia dell’arte und in der bringt Arlechino – hier ein italienisch radebrechender Kalabrese – die Liebenden am Ende immer zusammen und lässt den verliebten Capitano – hier ein König, der in Maske und Kostüm auf eine Figur aus den Drei Musketieren verweist oder auch, wenn man so will, als Cyrano de Bergerac auftritt, leer ausgehen.
Ganz wie es Musik und Libretto verlangen, spielt auch die Regie mit Burleskem und Tragischem, zitiert dazu aus einer reichen Tradition – und ironisiert sie zugleich. Der verliebte König, im Outfit zwar ein Musketier-Verschnitt, singt wie ein verhinderter Don Giovanni vergeblich ein Ständchen unter dem Fenster der Angebeteten und versucht als eine Art D’Artagnan Karikatur, seinen Rivalen über den Haufen zu schießen. Der Rivale, der Favorit und Freund des Königs, tritt als spanischer poeta-soldato oder auch nach italienischer Tradition als in der Poesie dilettierender Cortegiano auf, der aus eigenen Gedichten vorträgt. Die schöne Prinzessin erscheint im Sternenkranz – eine jugendliche Königin der Nacht. Die beiden Diener-Figuren sind direkt der Commedia dell’arte entlaufen, und auch Stellidaura spielt schon mal mit deren Schemata. Wenn sie den bösen König erdolchen will, dann verkleidet sie sich in Maske und Kostüm als eine Arlechino Figur und signalisiert damit schon durch ihr komödiantisches Outfit, dass die scheinbar so tragische Situation nicht ‚tragisch-traurig‘ ausgehen wird. Und ein gleiches gilt für die Romeo und Julia Situation im Grabgewölbe. Mitnichten erdolcht sich die aus dem Tiefschlag erwachte Stellidaura. Nein, sie stürzt mit dem Dolch in der Hand davon, um sich am bösen König zu rächen. Ein Glück für beide, dass der Favorit mit einem tiefen Seufzer (zum Gaudi des Publikums) rechtzeitig aus der Ohnmacht erwacht, in die er beim Anblick der scheinbar toten Geliebten gefallen war und gerade noch Schlimmes verhüten kann.
So lösen sich denn, wie es sich für eine Semi-Seria gehört, im Finale alle Irrungen und Wirrungen in Heiterkeit und Jubel auf. Und auch wir im Publikum verlassen dieses Mal recht angetan Innsbruck. Alessandro de Marchi, seine Academia Montis Regalis, ein brillantes Ensemble hochmotivierter Sängerschauspieler und nicht zuletzt Francois De Carpentries als Regisseur und seine Mitarbeitet haben uns einen großen Opernabend bereitet und ein Werk für uns wieder entdeckt, das es verdiente, nicht nach drei Vorstellungen wieder im tiefen Brunnen der Vergangenheit zu versinken. Und wer jetzt noch erfahren will, dass Vorbild und Urbild und erste Darstellerin der Stellidaura die damals in Neapel als Schauspielerin, Sängerin, Theaterdirektorin und last not least als Maitresse hoher Herren berühmte Giulia De Caro war, der muss halt im Programmheft den Artikel von Professor Francesco Cotticelli lesen. Dort erfährt er dies und noch manches andere Nützliche.
Wir sahen die Premiere am 8. August 2012. Ein begeistertes Publikum feierte zu Recht alle Mitwirkenden