Die ewige Parabel von Gewalt und Gegengewalt – und von der traurigen Freiheit. Und alles ist ein Spiel – ein böses Spiel. Guillaume Tell an der Oper Nürnberg

Am Staatstheater Nürnberg steht eine Rarität auf dem Programm. Rossinis Wilhelm  Tell vom Jahre 1829, Rossinis letzte Oper und zugleich, so wissen die Musikhistoriker zu berichten, die Oper, mit er den Schritt hin zur Grand Opéra getan und anderen Komponisten die Wege dorthin gezeigt habe. Wie dem auch sei. Die Dilettantin, die Rossinis Wilhelm Tell zum ersten Mal als Ganzes gehört und auf der Bühne gesehen hat, kann nur hinzufügen, dass die Musik mit ihrer Mischung aus großen Chorpartien, Ensembleszenen und Belcanto Arien höchst beeindruckend ist und dass in Nürnberg brillant musiziert und gesungen wird. Die Inszenierung ist  auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig und überrascht dann umso mehr mit ihrer Vieldeutigkeit. Es geht ihr nicht darum, den Schweizer Nationalmythos in Szene zu setzen, wie  es die zunächst etwas irritierten Abonnenten der Sonntagnachmittagsvorstellung  wohl erwartet hatten. Ihr geht es darum, das Lied von Tod und Gewalt zu spielen, das triste Lied von der Vergeblichkeit aller Kämpfe  und von den Verheerungen der Gewaltorgien, die Unterdrücker und Unterdrückte in ihrem Kampf gegeneinander auslösen. Zwar liegt  – ganz wie es dem Schema der Freiheitstragödie entspricht –  der Tyrann am Ende gemeuchelt da. Doch der Preis, den die „Freiheitskämpfer“ dafür zu zahlen haben, ist hoch.  ‚Freiheitsheld‘ Tell hat mit dem berühmten Pfeilschuss seine Tochter zum Krüppel geschossen, er selber ist von den Schergen geblendet worden.  Arnold Melcthal, der ‚schwankende Held“ und  unsichere Liebhaber, der sich zwischen den Parteien nicht zu entscheiden vermag, rächt zwar, als er sich schließlich auf die Seite der Unterdrückten stellt, seinen von den Bösen ermordeten Vater. Doch in seiner Racheorgie  schlägt er seine Geliebte, die „Prinzessin von Habsburg“, die  zwischen den Parteien vermitteln will, gleich mit tot. Die scheinbar so Guten, die „Freiheitskämpfer“, zahlen als Opfer mit Verstümmelung und  als Täter mit Mord und Verrohung. Doch Dekonstruktion und Deformierung des Tell Mythos und auch die Parabel von der ewigen Gewalt, so bestimmend und dominant auch  beide in der Inszenierung erscheinen, sind nicht das eigentlich Grundkonzept der Regie. Das Konzept heißt  Metatheater und Experiment. Gleich  zur Ouvertüre finden sich Signale, die in diese Richtung deuten. Die Regie zitiert die Ausgangssituation von Steven Galloways Roman Der Cellist von Sarajewo: der  Cellist, der mit seinem Spiel, mit Albinonis  Adagio, der Gewalt gegen die belagerte Stadt trotzt. Die belagerte Stadt ist im Nürnberger Wilhelm Tell ein geschlossener Raum, in den Menschen von heute eingesperrt sind. Aus dem einsamen Cellisten ist ein Streichquartett geworden, dass die Eingeschlossenen bestaunen und das im Bühnenhimmel entschwindet. Das Experiment, das die Eingeschlossenen spielen, heißt: wie agieren und reagieren Menschen, die von einem tyrannischen Regime im Wortverstande eingeschlossen werden und denen auf einer Leinwand die lachenden Gesichter der Tyrannen vorgespielt werden. Sie  agieren und reagieren so, wie sie es vom Tell Mythos her kennen, sie spielen Wilhelm Tell, sie spielen Theater, finden im Bühnenboden Kostüme und Requisiten. Wenn  sie nicht mehr weiter wissen, dann halten sie plötzlich Reclam  Hefte mit Schillers Text in der Hand und zitieren den Rütlischwur. So steigern sie sich  immer mehr in ihrer Theaterrollen hinein, bis sie schließlich Fiktion und Realität nicht mehr zu trennen wissen – und die Folgen sind fatal. Der Preis der Freiheit, wenn sie sie denn errungen haben sollten, ist hoch. Vielleicht zu hoch?  Ein brillantes Konzept und eine gekonnte Umsetzung. In Nürnberg ist ein Guillaume Tell zu hören und zu sehen, der musikalisch und szenisch alle Ansprüche erfüllt. Eine höchst gelungene Aufführung. Wir sahen die Aufführung am 15. April 2012. Die Premiere war am 3. März 2012.